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Der Klang der Zeit

Der Klang der Zeit

Titel: Der Klang der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Powers
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ein Vorspielen, Jungs. Ihr habt eure Erfahrung.«
    Aber es war mehr als ein Vorspielen. Es sollte unser Einstieg in das mörderische Rennen des Musikbetriebes sein. Jonah wollte an diesem Wettbewerb nicht einfach nur teilnehmen. Er wollte ihn gewinnen.
    Das Einzige, was Pa verstand, war, wie ernst es Jonah war. Als Ruth zu Bett gegangen war, setzte er sich mit uns an den Küchentisch. »Wir haben ein wenig Geld bekommen, als eure Mutter ...« Er zeigte uns Papiere. Jonah tat, als lese er sie. »Es ist kein Vermögen. Aber es wäre genug für den Anfang. Eure Mutter hätte es so gewollt; sie hat fest daran geglaubt, dass ihr es könnt. Aber merkt euch: Wenn es aufgebraucht ist, kommt nichts mehr nach. Ihr müsst sicher sein, dass ihr das Richtige damit tut.«
    Selbstzweifel waren nie Jonahs Sache. Er fand ein Studio, zehn Blocks von unserer Wohnung entfernt, am Rande von Harlem. Für eine beträchtliche Summe mietete er einen Flügel und ließ ihn in das Studio schaffen. Mir kam das alles sehr gelegen: Das Zimmer lag nur wenige Straßen von der Stelle, wo ich die Frau gesehen hatte, mit der ich meine Zukunft verbringen würde. In jeder Pause konnte ich an der Ecke stehen, an der sie verschwunden war, und warten, dass sie wieder auftauchte.
    Nicht dass Jonah viele Pausen vorgesehen hätte. Er ging davon aus, dass wir, wenn wir uns häuslich eingerichtet hatten, praktisch unsere ganze Zeit mit üben verbringen würden. Er beschaffte einen kleinen Kühlschrank und zwei alte Pfadfinderschlafsäcke. Bis zu den ersten Wettbewerbsrunden im Herbst wollte er ohne Unterbrechung arbeiten.
    Ich hatte nach wie vor Unterricht bei Mr. Bateman. Für Jonah konnte die Tatsache, dass ich noch immer zum selben Lehrer ging, nur be-deuten, dass ich nichts lernte. Ich musste mich entscheiden: Jonah oder meine Ausbildung. Mr. Bateman war der beste Lehrer, den ich je haben würde. Aber Jonah war mein Bruder und vielleicht das größte musika-lische Talent meines ganzen Lebens. Wenn er Mama nicht wieder leben-dig machen konnte, welche Hoffnung hatte ich dann?
    Ich bat um Beurlaubung. Mr. Bateman erzählte ich, es handele sich um einen Notfall in der Familie. Er unterschrieb, ohne Fragen zu stellen. Wilson Hart war der Einzige, dem ich reinen Wein einschenkte. Mein Freund schüttelte nur den Kopf, als er von unserem Plan erfuhr. »Weiß er eigentlich, was für ein Opfer er von dir verlangt?«
    »Ich glaube, er sieht es als Chance.«
    Mein Freund brauchte all seine Großmut, um mich nicht zu verurteilen, um nicht zu sagen, was er hätte sagen sollen. »Kommt mir mehr wie ein Glücksspiel vor.«
    Schlimmer als ein Glücksspiel. Aber so war es nun einmal mit dem Singen. Eins wussten Will und ich genau: Der Einsatz bei diesem Spiel war so hoch, dass ich nicht mehr in die Schule zurückkehren würde, ganz gleich, wie es ausging.
    »Hör mir gut zu, Mix. Die meisten Menschen –« Wilson Hart streckte die Hand aus und fasste mich am Kinn. Ich ließ zu, dass er meinen Kopf anhob. Seine Finger streiften meinen Adamsapfel. Ich überlegte, ob ein Blinder die Rasse seines Gegenübers durch Berührung erkennen konnte. »Die meisten Menschen würden für einen Bruder wie dich einen Mord begehen.«
    Er wollte, dass ich mich neben ihn setzte und mit ihm spielte, solange ich noch in der Gegend war. Schließlich könne man nicht wissen, wann
    ich das nächste Mal vorbeikäme. Wir spielten eine vierhändige Version der Kammerfantasie, an der er gerade arbeitete, ein beunruhigend harmonisches, sepiagetöntes Stück, voll mit Melodien, die ich hätte erkennen müssen und doch nicht erkannte. Jonah hätte es reaktionär genannt. Aber Jonah brauchte ja nichts davon zu erfahren.
    Diesmal überließ Will mir den oberen Part. Ich beobachtete das Gesicht meines Freundes in den Pausen. Die Komposition brach schließlich ab, mit der überraschenden Einführung eines neuen Themas, einem getra-genen Motiv, das nicht ganz »Motherless Child« war, vielleicht aber davon abstammte, irgendwo in der langen Ahnenreihe der elternlosen Generationen. Das Lied zerbrach uns unter den Fingern, unvollendet. Wir hingen in der Luft über den Tasten und lauschten all den Dingen nach, an die es uns erinnert hatte, als wir noch zu beschäftigt waren zum Hören.
    Nach einem Schweigen, wie es vielsagender kaum hätte sein können, begann ich wieder zu spielen. Ich ließ das erste Thema aus seiner Exposition wieder aufleben. Dabei sah ich demonstrativ nicht auf das Notenblatt. Sobald das Motiv

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