Der Klang der Zeit
für ein paar weitere Tage. Wieder zurück in unserem gemieteten Studio, verbrachten wir zwei Minuten mit der Nachbesprechung.
»Was meinst du, warum mögen sie uns, Joey? Können wir wirklich so viel besser klingen als die anderen? Oder sind die Richter nur froh, dass wir keine von den Negern sind, die sie auf der Straße zusammenschlagen?«
Ich spielte ein paar Takte Dowland, unterlegt mit Charlie Parker. »Ganz sicher sein können sie sich ja da nicht, oder?«
»Da hast du Recht, Bruder. Nur weil wir den Erlkönig singen, heißt das noch lange nicht, dass wir nicht trotzdem ihre Töchter vergewaltigen. Sicher sein können sie sich nie.«
Tatsächlich konnte man nicht wissen, was sie uns zutrauten und was nicht. Man wusste nicht, was die hohen Herren sahen, wenn sie einen anblickten. Nicht einmal ich hätte sagen können, wen ich da sah, wenn ich uns beide anblickte.
»Da hätten wir also nach wie vor unsere drei Todeskandidaten«, sagte Jonah und drängte uns zurück zu den Proben. »Einen modernen Italie-ner, einen deutschen Romantiker und einen Engländer aus elisabetha-nischer Zeit ...«
Die vorletzte Runde fand in Washington statt. Selbst wenn wir hier ausschieden, waren wir so weit gekommen, dass es uns voranbrachte. Jonah war der jüngste Sänger, der noch im Rennen war. Aber Jonah hatte nur das große Ziel vor Augen. Der Wettbewerb um Amerikas neue Stimme war nur eine Geisel in diesem Feldzug.
Das Halbfinale fand im Auditorium in Georgetown statt. Wir übernachteten in einem billigen Hotel im Nordosten, ein gutes Stück entfernt. Dass wir überhaupt in ein Hotel gingen, war noch ungewohnt für uns. Der Portier fragte, ob es nur für den Nachmittag sei.
Am Abend gingen wir spazieren und fanden uns, ohne dass wir es abgesprochen hatten, auf der Mall wieder. Wir hatten die Gründungslegende unserer Familie so oft gehört, und so verschieden erzählt, dass wir die Stelle, wo unsere Eltern sich kennen gelernt hatten, mit eigenen Augen sehen mussten. Derselbe Ort, nur später: daran glaubten wir, auch wenn unser Vater uns ein Leben lang gepredigt hatte, dass Wo und Wann unabhängige Variablen waren.
Nie hätte ich gedacht, dass ein Ort so voller Meilensteine sich so leer anfühlen könnte. Hunderte von Menschen waren im Vorgarten der Nation unterwegs, selbst am Abend noch. Und trotzdem wirkte er verlassen. Ich hatte mir Menschenmengen ausgemalt – Zehntausende. Aber die große grüne Rasenfläche sah wie leer geräumt aus, wie bei einem Probealarm. Wir gingen das lange Rechteck entlang, sprachen beide kaum ein Wort, hielten beide Ausschau nach etwas, das doch unsichtbar sein musste: Nach dem, was unsere Eltern dazu gebracht hatte, sich wieder zu sehen, über den Tag hinaus, an dem sie ihrer getrennten Wege hätten gehen sollen.
Bei unserem Auftritt waren mehr Gespenster unter den Zuhörern als lebendige Menschen. Zum ersten Mal in meinem Leben waren meine Arme steif vor Lampenfieber. Ich wusste, dass ich diese Krankheit von Anfang an in mir gehabt hatte, dass sie gewartet hatte wie ein Aneu–rysma, wie der Terror in einer tickenden Zeitbombe. Diesen Augenblick suchte sie sich aus zum Explodieren. Wir traten, beide im Abendanzug, aus den Kulissen und gingen zum Mittelpunkt der Bühne, ein Weg, ein Dutzend Fußballfelder lang. Wir verneigten uns, eckig, synchron, wie zwei Spielzeugvögel, die ihre Schnäbel in das Wasser tauchen. Ich setzte mich ans Klavier, und Jonah nahm seinen Platz daneben ein. Ich blickte hinaus auf das Publikum, das erwartungsvoll applaudierte, weil schon viel über uns erzählt wurde. Plötzlich hörte ich nichts mehr. Nicht einmal ein Echo. Ich rieb mir die Fingerknöchel, um die Durchblutung in Gang zu bringen. Die Richter verlangten den Erlkönig. Ein Dutzend Komponisten neben Schubert hat Goethes Mittelalterballade vertont, aber nur diese eine Variante reitet noch immer.
Wir begannen sie in unserem üblichen Galopp. Wenn Jonah und ich uns einmal auf ein Tempo geeinigt hatten, wichen wir selten mehr als zwei Taktschläge pro Minute davon ab. Man hätte jede Schweizer Uhr danach stellen können, mit Ausnahme vielleicht derjenigen des technischen Experten dritter Klasse am Patentamt Bern, der uns das alles eingebrockt hatte. Sein absolutes Gehör hatte Jonah im Laufe der Jahre oft das Leben leichter gemacht. Aber noch nützlicher war sein perfektes Gespür für das Metrum. Wir ritten los, in dieser Dunkelheit, in der alles auf dem Spiel stand:
Wer reitet so spät durch
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