Der Klang der Zeit
auf, die Vertonung eines Gedichts von Ma-chado; die Zwölftontechnik war nach wie vor Jonahs liebstes Kind, und er glaubte allen Ernstes, dass er mit diesem Lied die Herzen der Richter im Sturm erobern würde. Dann zähmten wir den Erlkönig, und Jonah machte aus dem alten Klepper einen Pegasus. Und als Letztes polierten wir Dowlands »Time Stands Still«, bis es sich in Luft auflöste. Er wusste, dass wenige seiner Konkurrenten, wenn überhaupt, so weit in die Musikgeschichte zurückgingen. Mit diesem einfachen Lied wollte er Steine zum Leben erwecken und die Lebenden zu Stein erstarren lassen.
Die lokale Vorentscheidung fand an der Musikschule von Manhattan statt. Wir gingen, als der Tag gekommen war, zu Fuß auf die andere Seite der Insel, und Jonah gab mir noch ein paar strenge Anweisungen. Es war eher eine Talentprobe, und eine lange Reihe von blutigen Amateuren sang Gassenhauer aus Guys and Dolls. Zum Glück war keiner aus der Fakultät von Juilliard dabei; sie waren als Preisrichter zu den Vorrunden in Jersey und Connecticut bestellt worden.
Wir waren um sechs Übungswochen zu gut. Zum ersten Mal in seinem Leben hielt Jonah sich auf der Bühne zurück. Er war geradezu verhalten, im Vergleich zu der vollen Stimme, mit der er auf den Proben gesungen hatte. Aber für die nächste, stadtweite Runde waren wir allemal noch gut genug. Dafür sorgte allein schon seine Fähigkeit im Singen vom Blatt. Es hätte schon eine Katastrophe geschehen müssen, bevor wir an dieser ersten Runde gescheitert wären. Aber sobald wir allein waren, stellte ich ihn zur Rede.
»Was war in dich gefahren? Monatelang üben wir das Zeug, und dann singst du es so schlecht wie nie.«
»Eingebung in letzter Minute, Joey. Wir dürfen nicht gleich am Anfang zeigen, was wir können. Das erhöht nur das Risiko, dass einer von den Richtern uns ein Bein stellt.« Er hatte auf dem Konservatorium viel gelernt.
»Sag mir das nächste Mal vorher Bescheid, wenn du die Spielregeln änderst.«
»Bitte tausendmal um Verzeihung, Muli. Du hast wunderbar gespielt. Und weiter geht's! Wir sind doch in der zweiten Runde, oder?«
Wir hatten zwei Wochen für weitere Verbesserungen und übten in dieser Zeit so viel wie sonst in zwei Monaten. Wir hatten in der ersten Runde gute Sänger gehört, darunter die besten unserer Bekanntschaft von Juilliard und ein paar eindrucksvolle Unbekannte aus Upper Manhattan. Die meisten hatten ein halbes Dutzend Jahre mehr Erfahrung als Jonah. Außer einer Stimme, die selbst den hartgesottensten entflohenen Sträfling dazu bringen konnte, sich zu stellen, hatten wir nichts als unbegrenzt Zeit.
Bei der New Yorker Runde in Queens hätte er uns beinahe disqualifiziert. Berauscht von mehr Talent, als gut für einen Zwanzigjährigen war, sang Jonah länger, als ihm an Prüfungszeit zustand. Er sang den Dallapiccola, der die Prüfer beeindruckte, aber nicht erfreute. Dann bat einer noch um eine Strophe des Dowland, um den Geschmack zu neutralisieren, bevor sie uns entließen. Wir gaben die erste Strophe, doch als wir am Doppelstrich anlangten, warf Jonah mir einen verschwörerischen Blick zu und sang weiter bis ans Ende des Lieds. Der Rhythmus der zweiten Strophe ist holprig wie bei einer schlechten Übersetzung und lässt sich kaum nach der Melodie singen, die so wunderbar auf die erste Strophe passt. Doch Jonah ließ die Worte hervorkommen wie die Einge-kerkerten aus einem politischen Gefängnis, wenn das Unrechtsregime stürzt.
Wir hatten eindeutig gegen die Wettbewerbsregeln verstoßen. Die Richter hätten uns von der Bühne schicken können, aber nach einem kurzen Murmeln saßen sie und warteten ab. Als das Lied zu Ende war, war ihnen anzumerken, wie sie unter der schmerzhaften Stille litten. Hätte es eine dritte Strophe gegeben, hätten sie uns auch die noch singen lassen.
Wir bekamen grünes Licht für die Regionalausscheidung. Viele, die wir von Juilliard kannten, kamen nicht in die nächste Runde, darunter Sänger, deren Stimme auch die größte Sehnsucht nach Schönheit gestillt hätte. Wettbewerbe sind wie Schnappschüsse und zeigen die Kandidaten nicht immer im besten Licht. Sie schneiden aus der Zeit ein zu dünnes Präparat. Monatelang übt man zehn Stunden am Tag, immer in der Hoffnung, dass in den paar Sekunden auf der Bühne alles genauso gut geht wie in dem Jahr im Probenraum. Und nur selten kommt es so. Zufällig klangen wir gut, in dieser hauchdünnen Scheibe Zeit. Wir waren die Auserwählten, zumindest noch
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