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Der Klang der Zeit

Der Klang der Zeit

Titel: Der Klang der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Powers
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zuckte, hundert Beats pro Minute. Zum ersten Mal im Leben hatte mein Bruder Angst. Vielleicht nicht davor, dass er versagte: Das wäre noch eine Erleichterung gewesen. Er fürchtete sich vor dem, was aus ihm würde, wenn die Frage, was er war, von anderen beantwortet würde.
    Seine Lehrer tobten. Sie hatten ihre Beziehungen für ihn spielen lassen, und ihr Schützling machte sich einfach davon. Agnese war es nicht gewohnt, dass jemand seine Großzügigkeit ausschlug. Er setzte meinen Bruder vor die Tür und sprach kein Wort mehr mit ihm. Grau, der langfristigere Planer, ließ ihn Platz nehmen, machte ihn noch ein paar Minuten länger zum Gefangenen und ließ sich erklären, was er stattdessen tun wolle.
    Jonah warf die Hände in die Luft. Er war gerade im rechten Alter, ein geschlüpfter Erwachsener, an dem der Kokon der Jugend noch klebte. »Ich dachte, ich singe ein wenig.«
    Grau lachte. »Und was haben Sie die letzten vier Jahre über getan?«
    »Ich meine ... für Menschen singen.«
    Das Lachen wurde schärfer. »Menschen, im Unterschied zu Lehrern ?«
    »Menschen im Unterschied zu Leuten, die dafür bezahltwerden, dass sie zuhören.«
    Mr. Grau lächelte vor sich hin. Er faltete die Hände vor dem Gesicht und sagte mit der Tonlosigkeit des Schauspielers: »Unbedingt. Dann sollten Sie sehen, dass Sie Ihre Menschen finden.« Kein Segen, kein Fluch. Einfach nur: Geh und sieh zu, was daraus wird.
    Pa war so verwirrt, wie ich ihn noch nie gesehen hatte. Er schüttelte nur immer wieder den Kopf, wartete, dass alles sich aufklärte. Dann machte die Enttäuschung sich breit. »Wenn du nach dem Abschluss weiter hier wohnen willst, musst du dir Arbeit suchen.« Jonah hatte nicht einmal einen Begriff, was das Wort überhaupt bedeutete. Er tippte einen lächerlichen Lebenslauf und bewarb sich auf Stellen für ungelernte Arbeitskräfte – Kaufhäuser, Restaurants, selbst bei der Hausverwaltung von Columbia. Aber er brachte genug von seinen kulturellen Vorlieben unter, dass jeder Interessent sofort abwinkte.
    Er beschloss, es doch als Sänger zu versuchen. Doch ein gewöhnliches Vorsingen war ihm nicht genug. Er studierte die Musikpresse, forschte nach, wo es Chancen für ein Debüt gab. Er fand einen Wettbewerb, der wie für ihn geschaffen war. Er kam mit der Ausschreibung zu mir. »Das machen wir, Muli.«
    Er hielt mir die Zeitung unter die Nase. Amerikas neue Stimme: Ein landesweiter Wettbewerb für junge Sänger, die noch nicht professionell aufgetreten sind. Der ausgesetzte Preis war astronomisch. Da schien es nur vernünftig, dass wir es versuchten. Die erste Runde fand erst in Monaten statt, kurz vor dem vorgesehenen Termin für meine eigene Abschlussprüfung.
    »Ich bin dabei, Bruder. Lass mich wissen, wann es losgeht.«
    »Ja, warum nicht gleich?«
    Da wusste ich, welche Pläne er für mich hatte. Ich hob beschwichtigend die Hände. »Mein Unterricht. Meine Prüfung.« Mein Diplom. Mein Leben.
    »Jetzt komm schon, Muli. Wir haben doch das ganze Programm beisammen. Du bist der einzige Begleiter, der mich kennt. Der meine Gedanken lesen kann.«
    «Wen haben wir als Lehrer?«               
    In Jonahs Augen zeigte sich das manische Glitzern, das man sonst nur beim Singen sah. »Niemanden. Du bist mein Lehrer, Joey. Da kommt doch gar kein anderer infrage, nur ein Blutsbruder. Der Einzige, bei dem ich mich darauf verlassen kann, dass er gnadenlos ist. Denk doch nur, wie das wirken wird. Wir kommen aus dem Nichts und spazieren mit dem Preis davon.«
    »Jonah. Ich muss mein Examen machen.«
    »Liebe Güte, für wen hältst du mich? Ich werde doch deiner Ausbildung nicht im Wege stehen. Einem Jungen wie dir.«
    Mein Examen habe ich nie gemacht, aber zumindest der Form nach kann man wohl sagen, dass er mir nicht im Wege stand.
    Er ging zu Pa und erklärte ihm, wir brauchten einen Raum zum Üben. »Wieso übt ihr nicht hier? Hier sind nur eure Schwester und ich. Wir kennen euch doch.«
    »Das ist es ja gerade, Pa.«
    »Was spricht gegen zu Hause? Ihr habt eure Musik immer zu Hause gemacht, seit ihr klein wart.«
    »Wir sind aber nicht mehr klein, Pa.« Pa sah mich an wie einen Verräter.
    Jonah setzte noch eins drauf. »Und das hier ist nicht unser Zuhause, Pa.« Unser Zuhause war verbrannt.
    »Wieso übt ihr nicht in der Schule?«
    Jonah hatte die Details seines Abgangs von Juilliard für sich behalten. »Wir brauchen Privatsphäre, Pa. Es soll nicht jeder wissen, was wir vorhaben.«
    »Das ist doch auch nur

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