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Der Klang der Zeit

Der Klang der Zeit

Titel: Der Klang der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Powers
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sich entfaltet hatte, hätte ich, selbst wenn ich es gewollt hätte, ohnehin keine Noten mehr gehabt. Will Harts Melodie strömte durch meine Arme über die Handgelenke in meine Hände und bis in die Fingerspitzen. Dann setzte sie zum Flug an, und ich folgte ihr, immer gerade noch in Hörweite. Ich merkte, wie Will neben mir vor Überraschung tief Luft holte, als ich anfing, frei über seine Fantasie zu phantasieren. Dann stieß er die gleiche Luft in einem tiefen, schallenden Lachen wieder hervor, einem Lachen, das ihm in die Fingerspitzen fuhr und zur Freiheit drängte. Will nahm Anlauf und sprang auf den fahren-den Zug, den Zug, den ich entführt hatte. Er schüttelte nur verblüfft den Kopf, als ihm aufging, womit ich meine Wochenenden verbracht hatte.
    Als sich die erste Überraschung gelegt hatte, flogen wir Seite an Seite dahin. Unsere Seelen erkundeten Taktarten, die die Melodie auf dem Blatt nicht zu erproben gewagt hatte. Will frohlockte über die Veränderung seit unserem letzten gemeinsamen Ausflug. Er wollte innehalten und mich aufziehen, aber unsere Hände ließen es nicht zu. Ich köderte ihn mit kleinen Bravourstückchen, Rufen, auf die er einfach antworten musste. Aber er stellte mich auch auf die Probe und lockte mich tief in den Schatten jeder Idee, mit der ich ihn verblüffte. Wo ich seinen Einfällen nichts Ebenbürtiges entgegenzusetzen hatte, schmückte ich sie immerhin mit kontrapunktischen Schnörkeln aus meinen Etüden, Hände voller Blumen für die Vase, die er mir reichte.
    Mit seinen Akkorden schuf er eine solide Basis, und ich tat mein Bestes, um darüber ein Netz aus neuen Tönen zu weben. Für eine Weile, zumindest so lange wie unsere vier Hände in Bewegung blieben, teilten die gebändigte Musik der Notenblätter und die unbändige Musik der freien Improvisation sich den Platz hinter dem Ofen.
    Ich steuerte uns zu einem bravourösen Bebop-Finale mit einem gestohlenen Altsaxophon-Riff, den ich im Gate gehört hatte. Will lachte so herzhaft über meine musikalische Taufe, bei der ich mit Haut und Haaren in die Fluten eintauchte, dass seine linke Hand nur mit Mühe die Tonika fand. Zum Schluss fehlte nur noch ein Trommelwirbel, und den vollführten wir im Stehen unisono auf dem Klavierdeckel.
    »Nicht dass du mich jetzt vor den Kadi schleppst, Will«, sagte ich, als wir wieder zu Atem gekommen waren. »Ich habe nirgendwo auf deiner Partitur ein Copyright-Symbol gesehen.«
    »Wo um alles in der Welt hast du das gelernt, Mix?« »Na, du weißt schon. Mal hier, mal da. Überall und nirgends.« »Mach dass du weg-kommst! Raus hier!« Er schickte mich weg, so als ob ein Rausschmiss die einzige Sicherheit bot, dass ich wiederkommen würde. Aus der Ferne rief er mir nach: »Und nicht vergessen: Du hast es mir versprochen.« Ich drehte mich um und sah ihn verständnislos an. Schon vergessen. Er machte eine Bewegung, als ob er etwas aufschrieb. Komponierte. »Eines Tages musst du alles zu Papier bringen.«
    Als sich der Sommer dem Ende zuneigte, regierte Jonah mit eiserner Hand. Wir verließen die Wohnung jeden Morgen, wenn Ruthie zur Schule ging, und kehrten erst so spät zurück, dass wir ihr nicht einmal mehr Gute Nacht sagen konnten. Sie beklagte sich, weil sie uns gar nicht mehr sah, aber Jonah lachte nur. Häufig schickte er mich nach Hause und ließ Pa ausrichten, dass wir über Nacht im Studio blieben, um an einer besonders schwierigen Passage zu feilen.
    Wir fanden unseren Rhythmus. Jonahs Arbeitswut war größer als die verfügbare Zeit. »Der Mensch hat Bedürfnisse«, köderte ich ihn. »Der Mensch muss essen.«
    »Was sollen wir denn sonst den ganzen Tag über machen?« »Du hast noch nie in deinem Leben so hart gearbeitet.« »Ich arbeite gern für mich, Joey. Das hat mehr Zukunft.« Wir tauchten ganz tief ein, in die Tiefen, die die Musik ergründen muss. Wir gelangten an Orte, die noch völlig unberührt waren. Wir arbeiteten so lang und zu so ungewöhnlichen Zeiten, dass die Tage zerflossen. Jonah wollte nicht, dass ich eine Uhr trug. Er verbannte alles, was tickte und mehr Erinnerungsvermögen hatte als ein Metronom.
    Kein Radio, keine Schallplatten, keine Zeitungen, kein Signal von der Außenwelt. Nur unsere ständig anwachsende Liste von Notizen auf kanariengelbem Notizpapier, das Wandern der Sonnenstrahlen über die Bodendielen, die ewigen Sirenen und die gedämpften Geräusche aus den Wohnungen unter uns ließen erkennen, dass die Jahreszeiten noch in Bewegung waren.
    Harlem

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