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Der Klang der Zeit

Der Klang der Zeit

Titel: Der Klang der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Powers
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Singen war das, was er am besten konnte. Singen war besser als alles, was die Welt ihm zu bieten hatte, besser als jede Droge, als jedes Beruhigungsmittel. Es war in seinem Körper und in seinem Blut, wie Insulin. Auf den Gedanken, dass er auch etwas anderes tun könnte, war er nie gekommen. Die Lust am Fliegen war viel zu groß bei ihm.
    Unsere Vorbereitung war ermüdend, langweiliger als alles, was ich je erlebt hatte. Manchmal saß ich zwanzig Minuten lang schweigend und vollkommen reglos da, während Jonah eine kleine Unebenheit in einer Appoggiatura ausbügelte. Manchmal ging ich in solchen Fällen nach draußen und stand an der Ecke oder wanderte um ein paar Häuserblocks, immer in der Hoffnung, dass ich der Frau mit dem marineblauen Kleid begegnete. Dann kam Jonah hinter mir hergelaufen und schleppte mich zurück, wütend über meine Fahnenflucht.
    Manchmal sank er in tiefe Mutlosigkeit wie in einen Brunnenschacht, und nichts brachte ihn wieder empor. Er war überzeugt, dass jede Note, die er sang, alter Kuhmist war. Manchmal stellte er sich in eine Ecke und sang. Er legte sich auf die hölzernen Fußbodendielen, flach auf den Rücken, und sang empor zur Decke. Alles, um die zweihundert Muskel-gruppen, die sich beim Singen bewegten, in Einklang zu bringen. Er blieb liegen, auch wenn ich schon aufgehört hatte zu spielen, erdrückt vom Ozean der Atmosphäre. »Muli. Hilf mir. Wie hieß es doch gleich?«
    »Ihr zwei Jungs, ihr könnt alles sein, was ihr sein wollt.«
    Neuerdings litt er bisweilen an Atemnot. Ausgerechnet er mit seinen Lungen des Äolus. Mitten in einer Es-Dur-Tonleiter krampfte sein Hals sich plötzlich zusammen wie bei einem allergischen Schock. Ich brauchte drei Takte, bis ich begriff, dass es keine Alberei war. Ich brach mitten in einem Leitton ab und lief zu ihm hin, ging mit ihm im Zimmer auf und ab, massierte ihm den Rücken, redete ihm gut zu. »Brauchst du Hilfe? Soll ich einen Arzt rufen?« Aber wir hatten kein Telefon und hätten nicht einmal gewusst, wo wir anrufen sollten.
    Er streckte den Arm aus und schlug den Takt wie der Dirigent eines Amateurorchesters. »Mir fehlt nichts.« Seine Stimme klang, als käme sie unter einem Eisberg hervor. Zwei weitere Runden durchs Zimmer, und er atmete wieder. Er ging zum Klavier und spielte eine kleine Kadenz, die meinen unterbrochenen Leitton auflöste. »Liebe Güte, was war das?«, fragte ich. Aber er wollte nicht darüber reden.
    Zehn Tage darauf kam es ein zweites Mal. Beide Male überwand er den Anfall binnen kurzem, und seine Stimme war klarer denn je. Ein Belag hatte sich gelöst, von dem ich erst merkte, dass er da gewesen war, wenn er danach umso strahlender sang. Mir kam sogar, wenn auch mit schlechtem Gewissen, der Gedanke: Wenn man das gezielt machen könnte, im richtigen Augenblick ...
    Einmal stoppte er mich abends auf dem Nachhauseweg und fasste mich am Arm. In seinem Kopf formte sich ein Gedanke, und er blieb an einer gefährlichen Ecke der 122. Straße stehen, als warte er nur darauf, dass die Schläger kamen. »Weißt du was, Joseph? Es gibt nichts auf der Welt, nichts .. .«
    »Besseres als eine Frau?«
    »Weißeres als wenn man Schubert vor fünf impotenten voll gefressenen Preisrichtern singt.«
    »Nicht so laut, Mann. Willst du dich lynchen lassen?«
    »Nichts Weißeres auf der ganzen weiten Welt.«
    »Woher willst du wissen, dass sie impotent sind?
    »Nichts.«
    »Also ich weiß nicht, Jonah.«
    »Nenn mir eines.«
    »Wie wäre es mit fünf impotenten voll gefressenen Preisrichtern, die über Schubert-Sänger urteilen?«
    »Gut. Noch eins.«
    Ich mühte mich, ihn in Bewegung zu halten, damit keiner auf der Straße die Ohren spitzte. Aber Jonah war tief versunken in eine Art Verhör, in etwas, das ich noch nie bei ihm gesehen hatte: »Weißt du, was das Ulkigste daran ist? Wenn wir gewinnen ...«
    »Wir werden gewinnen.« Einer von uns musste es ja sagen.
    »Stell dir vor, wie viel schwärzer wir den Richtern vorkommen. Allen außer uns selbst. Und wir spazieren mit ihrem Preis davon.«
    Schon Wochen vorher bekamen wir die Regeln zugeschickt. Die Prüfung bestand aus einer von der Jury vorgegebenen Tonleiterübung und einem Vortrag vom Blatt bei mittlerem Schwierigkeitsgrad. Außerdem hatten wir drei Stücke unterschiedlichen Charakters vorzubereiten, von denen die Richter sich dann eines aussuchten. Jonah stellte ein Trio zusammen, das jeder andere exzentrisch gefunden hätte. Als Erstes frischten wir einen Dallapiccola

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