Der Klang der Zeit
Auftritte,
den sie besuchen wird. Er und mein Vater vollführen einen kleinen Tanz rund um die verklingenden Noten, die aufkommende Beklommenheit. Pa tadelt Jonah für sein Deutsch, nennt ihn einen Polacken. Sagt, dass er ja beinahe einer geworden wäre, in einem anderen Leben.
»Ich wäre ein Polacke gewesen?«, fragt mein Bruder.
»Ein Beinahe-Polacke bist du. Ein kontrafaktischer Polacke.«
»Ein Polacke in einem Paralleluniversum?«
Meine Schwester und ich versuchen, den beiden den Mund zu verbieten. Aber mein Bruder lässt sich nichts mehr verbieten, mein Bruder nimmt Leute wie uns überhaupt nicht mehr wahr. Einen Augenblick lang hat er alles erreicht, was er mit Singen erreichen kann. Als die anderen uns nicht hören, bitte ich ihn noch einmal, mich gehen zu lassen, sich einen Begleiter zu suchen, der ihm gerecht werden kann. Und wieder lehnt er es ab.
Ein alter Herr, Landadel aus einer Pflanzerdynastie, stellt uns zur Rede. Ich rieche die Feindseligkeit in seinem empörten Atem. »Was seid ihr Jungs eigentlich?« Und mein Bruder singt ihm neunmalklug einen Vers, seine Medaille in der Hand, den Preis, der ihm gestattet einfach zu vergessen, wie die Welt um ihn her ihn sieht:
»I am my mammy's ae bairn,
Wi' onco folk I weary, Sir ...«
Aber das Wort, das er so spöttisch singt, bringt mich zurück zu dem, was gerade erst verklungen ist. Wir stehen wieder auf der Bühne, mitten in der Stille, die er einfach nur dadurch entstehen lässt, dass er darüber singt. Ich sitze an den Tasten und zwinge meine Finger an die vorgesehenen Stellen, spiele die Verzierungen einer Renaissancelaute nach. Ich konzentriere mich, versuche nicht zu hören, was er singt, halte Abstand von der Klippe, die er für mich aufgebaut hat. Aber ich taste mich doch nahe genug an den stillen Fleck heran, dass ich höre, was für ein Preis das ist, den mein Bruder erringen will. Alle Musik ist für ihn nur ein Mittel zum Zweck, ein Schritt auf dem Weg zu diesem einen Ziel. In der zeitlosen Zeit, die er braucht, bis er an die Kadenz kommt, beginnt das Lied zu wirken. Sie erhebt sich hinter ihm, folgt ihm, wie die Götter es versprochen hatten. Aber in der Begeisterung seines Triumphes vergisst Jonah das Gelübde und wendet sich um. Ich blickte in sein freudig erregtes Gesicht und sehe darin, wie er unsere Mutter verschwinden sieht.
NICHT GANZ EINER VON UNS
Nettie Ellen hört und schweigt, wie bei allem, was die weiße Welt ihr seit der Zeit der Gefangenschaft angetan hat. Nicht hasserfüllt, nur hoffnungslos. Wieder ein neues Leid. Wieder ein neuer Peitschenhieb.
All die Fragen, die sie ihrer Tochter in der Dachkammer hatte stellen wollen, sind jetzt ohne Bedeutung. Sie schärft ihr Schweigen nicht für den tödlichen Stoß. Aber die stumpfe Waffe tut auch ihre Wirkung. Sie sitzt reglos. Reglos und außerhalb der Zeit.
Zu spät bereut ihre Tochter die Gefühle, die sie nie fühlen wollte. Aber die Liebe ist stärker als die Reue, wie jedes Mal. Delia Daley sucht tastend nach der alten, ersten Absolution. Mama, lass mich nicht allein. Ich bin doch immer noch dein kleines Mädchen. Sie weiß, auch das ist nicht die Wahrheit, vor allem nicht die Wahrheit darüber, wer hier wen verlässt.
Auch Delia schweigt. Aber in dieser reglosen Stille streckt sie die Hand aus und berührt ihre Mutter am Arm. Der Arm fühlt nur noch mehr Gewicht. Ihre Mutter sieht nichts als die neue Prüfung, die ihr nie hätte auferlegt werden dürfen. Da ist er wieder, der fast vergessene Herr mit der Peitsche, er kommt und verschafft sich Zugang durch die Seitentür.
Die Frau, Nettie, blickt auf zu ihrem eigen Fleisch und Blut. Sie kann nicht beten, dass der Kelch an ihr vorübergeht, wo dessen Inhalt ihr bestes Sonntagskleid bereits besudelt hat. Sie kann nicht einmal nach den Gründen für Delias Handeln fragen. Ihr kleines Mädchen hat sich längst selbst zerstört mit seinen Erklärungen. Als Nettie Ellen wieder sprechen kann, sagt sie nur: »Dann sieh zu, wie du das deinem Vater beibringst.«
Der Doktor springt auf, die Rechtschaffenheit in Person. Er läuft auf und ab und im Kreis, die Bedrohung zum Greifen nah, in Spuckweite seiner Tochter, die ihm stammelnd beichtet, was sie zu beichten hat. »Was für eine selbstgefällige ... Was in Gottes Namen hast du dir dabei gedacht?«
»Daddy«, lästert sie, »auf deine alten Tage wirst du ja noch fromm.«
»Komm mir ja nicht so, Tochter. Sonst wirst du dein vorlautes Mund-werk
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