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Der Klang der Zeit

Der Klang der Zeit

Titel: Der Klang der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Powers
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Nacht und Wind?
    Es ist der Vater mit seinem Kind ...
     
    Mitten in der zweiten Zeile setzte mein Gedächtnis plötzlich aus. Ich prallte gegen einen Felsen, und mein Körper wurde so weit geschleudert, ich konnte nicht einmal mehr sehen, wo er landete. Die vollen, klar umrissenen Harmonien entwickelten sich unter meinen Fingern zum grausigen Tristanakkord. Ich hielt inne und ließ meinen Bruder allein weitergaloppieren, allein auf den gähnenden Abgrund zu.
    Als er begriff, dass ich in diesem Leben nicht mehr zurückkehren würde, zog Jonah die Zügel an, hielt inne in seinem luftigen Galopp und überlegte, ob er einfach a cappella weitersingen sollte. Der ganze Saal war benommen vom zweifachen Schock seiner Stimme und ihres unvermittelten Schweigens. Jonah blieb in der Rundung des Klaviers stehen und sah mich nicht einmal an. Er blickte auf seine Schuhe, und ein grausamer Scherz huschte über sein Gesicht. Er tat einen beherzten Schritt nach vorn und sagte: »Wir versuchen es noch einmal. Diesmal mit Gefühl.«
    Die Leute im Saal kicherten, hie und da kam verlegener Applaus. Nicht einmal da blickte Jonah zu mir herunter, um sich zu vergewissern, ob ich bereit war. Er legte die rechte Hand wieder auf das Klavier, so wie er gestanden hatte, bevor wir aus dem Sattel geworfen wurden. Er atmete tief durch, und seine Stimme erhob sich von neuem, ohne jeden Zweifel, dass ich folgen würde. Diese Selbstverständlichkeit war mein Verderben. Die Landschaft unter meinen Fingern verwandelte sich in Morast. Als die Tasten wieder Gestalt annahmen, sah ich, wie sie sich zu einem absurden Ballett formierten, mit Lücken, wo keine hätten sein sollen.
    Ich hatte alles vergessen. Ich kannte keine Tonart, keinen ersten Akkord, keine Melodie, nicht einmal den Namen mehr. Ich wusste noch, dass es drei Lieder gewesen waren, aber welche drei, das konnte ich nicht mehr sagen. Die einzige Gewissheit war, dass ich es vergessen hatte. Panik packte mich, und jeder Fetzen Erinnerung entglitt mir, ein schwarzer Fleck gerade im äußersten Winkel meines weit aufgerissenen Auges.
    Ich sah, wie die Reihen sich leerten, sah einen großen Haken, der wie im Cartoon aus den Kulissen kam und uns von der Bühne holte. Ich saß da und vergaß jedes Musikstück, das ich je gelernt hatte, der Film lief rückwärts, ich durchlief Juilliard bis zum ersten Tag, dann löschte ich Boylston, vergaß Hamilton Heights, bis ich ganz unten angekommen war, bei meiner allerersten Erinnerung: dem Gesang meiner Mutter.
    Dann wandelte sich die Stimme der Mutter zur Stimme meines Bruders. Jonah schwebte von neuem in den Lüften. Ich musste nur einfach dasitzen und zuhören. Aber meine Finger spielten wohl mit, denn ich hörte das Klavier, wie es durch Nacht und Wind eilte, tief unten. Ich war nur Zuhörer, doch unter meinen unbewussten Fingern galoppierte die Melodie wie nie zuvor. Die Sache war verloren, Jonah sang mit dem Leibhaftigen auf den Schultern, der Ritt wilder denn je durch das atemberaubende Tempo. Wir erreichten das, wovon alle Musiker träumen, gnadenlose Ewigkeit, nichts lag zwischen den Noten und der jüngsten Vergangenheit, zu der sie schon im Verklingen wurden.
    Man kann nicht sagen, dass Flüsse ihren Lauf geändert hätten, um diesem Klang zu folgen. Es stürzten keine Tiere tot zu Boden, keine Steine erwachten zum Leben. Die Laute, die er hervorbrachte, veränderten nichts in der Welt. Aber etwas in den Zuhörern in diesem Saal hielt den Atem an, ließ sich aufscheuchen, stand zwei Takte lang schutzlos und nackt in dem plötzlichen Lichtstrahl, dann verschwand es wieder in seiner Deckung.
    Hinterher missachtete einer der Juroren seine Schweigepflicht und verriet Jonah, dass sie uns schon abgeschrieben hatten. »Und dann nahmen Sie Ihren zweiten Anlauf und vernichteten alle.« Das war das Wort, das er gebrauchte: Vernichten. Je tödlicher Musik war, desto besser.
    Ich stellte ihm mein Ultimaturm auf der Zugfahrt zurück nach Norden, im Gepäck eine Medaille und die Einladung zur Endausscheidung an Weihnachten in Durham. Wir saßen nebeneinander, aber wir berührten uns nicht. Jonahs Hände zuckten vor freigesetzter Energie, dirigierten im Dunkel eine stumme Symphonie.
    »Such dir jemand anderen, Jonah.«
    »Spinnst du? Du bist meine Hasenpfote. Mein schrumpfköpfiger Talisman.« Er streckte den Arm aus und fuhr mir über das Haar, seinen Glücksbringer, eine Stufe krauser als seines. Er wusste, wie sehr ich das hasste.
    »Wir hatten unverschämtes

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