Der Klang der Zeit
bleiben, aber dann lächelte er doch. Nein ... nicht die ganze Zeit. »O mio Fernando« habe ich nicht gehört. Noch nicht.
Ich habe laut gesungen?
Er reckte das Kinn trotzig nach vorn: Kümmere dich nicht um die Welt. Sotto voce. Ich musste mich bücken, um es zu hören.
Mein Gott, vor all den Leuten!
Es hat kaum einer gemerkt.
Warum haben Sie denn nichts gesagt?
Er zuckte mit den Schultern, erfüllt von dem Frieden, den nur die Musik geben kann. Miss Anderson ... klingt wie ein Engel. Aber sie war weit weg, und Sie ... Sie waren direkt neben mir.
Er stellte sich vor. Immer noch zerknirscht vor Scham, sagte sie ihm ebenfalls ihren Namen. Die Menge zerstreute sich, keiner achtete auf sie. Die Tausende, die an ihnen vorüberzogen, waren noch ganz versunken in die Musik, die sie zusammengebracht hatte. Noch waren die Individuen nicht wieder aus der Lösung ausgefallen, hatten sich noch nicht am Boden des Reagenzglases abgesetzt.
Die Menge schob sie weiter. Sie nahm innerlich Abschied von dem persönlichsten Gespräch, das sie je mit einem Weißen geführt hatte.
Aber dieser Mann, David Strom, blieb an ihrer Seite. Sie hörte, wie er sagte: Ich habe Miss Anderson schon früher gehört. In Wien, vor ein paar Jahren.
Sie haben sie gehört? In Ihrer Erregung vergaß Delia ganz, dass sie gerade selbst dieses unvergessliche Erlebnis gehabt hatte. Ehe sie sich versah und mit einer Leichtigkeit, die sie immer noch in Erstaunen versetzte, waren sie in ein Gespräch über die großen Sängerinnen vertieft. War Kirsten Flagstad wirklich so gut als Sieglinde, wie die Zeitungen schrieben ? Wer war in seinen Augen die beste Norma, wer seine liebste Manon? Sie klang wie eine furchtbare Streberin, aber was sie eigentlich antrieb, war noch viel schlimmer. Ihre Fragen öffneten Klammern schneller, als er sie wieder schließen konnte. Wenn man in diesem Jahr nur zwei neue Schallplatten kaufen könnte, welche sollten das sein? Wie musste eine Frauenstimme beschaffen sein, wenn sie, sagen wir mal, in der Scala bestehen wollte? Hatte er jemals die legendäre Geraldine Farrar singen hören?
Der Mann lachte. Die Farrar hat 1922 mit dem Singen aufgehört. Ich bin ein bisschen jünger, als Sie anscheinend glauben.
Sie blieb stehen und betrachtete sein Gesicht. Er war gar nicht so alt wie ihr Vater; höchstens zehn Jahre älter als sie selbst. Er trug einen grauen Anzug, ein weißes Hemd und eine schmale burgunderfarbene Krawatte, schief gebunden. Der graublaue Filzhut in seiner Hand war völlig zerknautscht. Braune Socken und Schuhe. Armer Kerl. Wahrscheinlich hatte er sich im Dunkeln angezogen. Gut aussehend war er nicht, ganz gleich welchen Maßstab man anlegte. Die runde Stirn zeigte schon die ersten Geheimratsecken; das Nasenbein wölbte sich hoch, als sei es einmal gebrochen gewesen.
Die Augen waren auffällig groß, was ihm einen stets verwunderten Ausdruck gab. Sie kämmte sich mit zwei Fingern das eigene Haar und fuhr sich prüfend mit den Handflächen über die Wangen. Ihre Lippen waren angespannt, was ihren Lehrer, Mr. Lugati, immer wieder wütend machte. Mit seinen großen Augen sah der Mann sie an. Sie: nichts sonst. Nichts außer ihr selbst. Und sie war höchstens zehn Jahre jünger als er.
Sie ließ zu, dass der Mann sie ansah. Der Wunsch zu fliehen war fort, selbst entflohen. Irgendwo in der Menge hatte sie sich aus der Deckung gewagt, hatte ihre Wachsamkeit fallen lassen, an diesem öffentlichen Ort. Miss Anderson war schuld daran. Sotto voce, hatte der Mann gesagt. Offenbar nicht sotto genug. Laut zu singen, ausgerechnet. Während er sie noch immer ansah, sagte sie auf Deutsch: Verzeihen Sie mir. Aber es dauerte eine Ewigkeit, bis sie es herausbrachte.
Gab es womöglich doch Weiße, die sie nicht auf den ersten Blick dafür hassten, dass sie ihnen nicht die Absolution erteilen konnte, die sie von ihr wollten? Dieser Mann wusste offensichtlich nichts über ihr Land, nur, wie es sich anfühlte, hier zu sein. Hier auf der Mall, an diesem Ostersonntag, nicht des historischen Ereignisses wegen, nicht um zu sehen, was geschah, wenn man über Jahrhunderte die schlimmste Hölle zum Himmel erklärte. Er war einfach nur hier, um Miss Anderson singen zu hören, die Stimme, die er in Wien gehört hatte, eine Stimme, wie man sie mit Glück einmal in hundert Jahren zu hören bekommt.
Er sah sie wiederum an, und sie verlor
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