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Der Klang der Zeit

Der Klang der Zeit

Titel: Der Klang der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Powers
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Glück. Ich war am Ende. Ich hatte jede Note vergessen. Genauso gut könnte ich jetzt immer noch da liegen.«
    »Ach, ich wusste doch, dass du dich wieder fängst.«
    »Da wusstest du mehr als ich.«
    »Das ist immer so, Joey.«
    »Ich bin dir ein Klotz am Bein. Selbst wenn ich keine Aussetzer habe, bin ich nur Ballast.«
    »Ballast ist gut. Hält Schiffe auf Kurs.«
    »Du brauchst jemanden, der dir ebenbürtig ist.«
    »Den habe ich.«
    Er holte mich wieder herauf, wie bei einer Probe: Immer und immer wieder dieselben Passagen, glätten, infrage stellen, auseinander nehmen, wieder zusammensetzen. Aber ich schämte mich so sehr, ich wollte alles hinter mir lassen, und das konnte ich nur, wenn ich das Aufgeben als edle Tat hinstellte.
    In seiner Verzweiflung kämpfte Jonah mit unfairen Tricks. »Wir sind im Endspiel. Alles oder nichts. Dezember. Was habe ich denn für eine Chance, dass ich noch jemanden ...«
    »Beim Finale spiele ich. Da werde ich weiß Gott für dich tun, was ich kann. Aber danach ...«
    »Danach sehen wir weiter.«
     
    Mein Bruder steht, allein wie ein Neugeborener, ein wenig rechts von der Mitte der Bühne in dem alten Konzertsaal der Duke-Universität in Durham, North Carolina. Zur Seite geneigt, etwas nach Steuerbord, als suche er Rückhalt in der geschwungenen Flanke des Konzertflügels, seiner einzigen Zuflucht. Er beugt sich nach vorn, schweigend, gekrümmt wie die Schnecke eines Cellos. Seine linke Hand stützt sich auf die Kante des Flügels, in der rechten hält er einen Brief, den es längst nicht mehr gibt. Er grinst, weil es so unmöglich ist, dass er hier ist, dann holt er Luft und singt.
    Für diese wenigen Minuten haben wir uns so lange lebendig begraben. Nur dafür haben wir unsere Jugend unter der Erde verbracht, dafür, dass wir gewinnen, dass wir den Preis wieder herauf ans Tageslicht zerren. Die Erlösung kommt aus seinem Mund, als habe er sie gerade e rst entdeckt. Aber in Wirklichkeit ist seine Kunst poliert bis zum letz–
    ten Atemzug der Luftsäule, auf der dieser Preis schwebt wie ein Ball auf dem Strahl eines Springbrunnens. Die Töne kommen wie von selbst, autonom, so perfekt einstudiert, dass er genauso gut weggehen und sie allein auf der Bühne zurücklassen könnte: Musik so perfekt, dass sie fast körperlos ist, schwerelos, und nichts von Anstrengung ist in diesem Jubel zu spüren.
    So sehe ich meinen Bruder, für alle Zeit. Er ist zwanzig Jahre alt; es ist Dezember 1961. Eben noch hockt der Erlkönig auf seiner Schulter, flüstert verführerisch von Erlösung. Im nächsten Augenblick tut sich in einer Falte der Zeit eine Falltür auf, und mein Bruder ist anderswo; ausgerechnet Dowland zaubert er hervor, eine hinreißende kleine Frechheit für die Ohren dieses verblüfften Liederpublikums, das gar nicht merkt, wie es ihm ins Netz geht. Er legt die Zungenspitze an den Gaumen, lässt die Luftsäule dahinter anschwellen, bis die Zunge sich mit einer kleinen Explosion von den Schneidezähnen löst, das kurze Puffen des t, das dem Vokal Raum schafft, von ta über taiii bis taiiime, bis es den ganzen Horizont des Gehörs ausfüllt – bis die Zeile selbst zu dem wird, was sie beschreibt:
     
    Time stands still with gazing on her face,
    Stand still and gaze for minutes, hours, and years to give her place.
    All other things shall change, but she remains the same,
    Till heavens changed have their course and time hath lost his name.
     
    Dieses Stillstehen und Schauen singt er, den vergeblichen Versuch des Herzens, es festzuhalten. Seine Augen leuchten, das Leuchten derer, die sich befreit haben und tun können, was sie tun müssen. Diejenigen, die es sehen, erwidern das Leuchten, in diesem Augenblick gefangen, gebannt, unschuldig. Im Singen fährt Elisabeths Flotte aus zu neu entdeckten Kontinenten. Während er singt, werden nur einen Bundesstaat weiter Bürgerrechtler zusammengetrieben und ins Gefängnis geworfen. Aber in diesem Saal steht die Zeit still und hält gebannt den Atem an.
    Jonah gewinnt. Ein halbes Dutzend Jahre zu jung für einen solchen Preis, tritt mein Bruder sein Erbe an; dass es ihm zusteht, daran hat er nie gezweifelt. In dem Chaos nach dem Auftritt, umgeben von Sängern, die ihn hassen, von Zuhörern noch halb in Trance von dem Klang, von Menschen, die nichts weiter wollen, als einfach nur in seiner Nähe sein, scheint er vollkommen. Er sieht unsere Schwester kaum, spürt nicht, wie entsetzlich sie leidet bei diesem letzten seiner öffentlichen

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