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Der Klang der Zeit

Der Klang der Zeit

Titel: Der Klang der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Powers
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bereuen.«
    Sie sinkt in sich zusammen, ihr Yes, Sir verliert sich in der Dunkelheit. Gestern noch hätte dieser Mann schelmisch gegrinst über ihre Frechheit. Heute ist er wie versteinert. Und sie selbst hat ihn zu Stein verwandelt.
    Er läuft zwischen den Bücherregalen in seinem Arbeitszimmer auf und ab und denkt nach. Sie hat ihn schon häufiger so erlebt, wenn der gebrechliche Körper und Geist mancher Patienten den Heilkundigen zum Todesboten machten. »Was ist bloß in dich gefahren, dass du dich auf die Seite von denen schlägst, die deinen eigenen Leuten –«
    »Daddy, ich schlage mich auf niemandes Seite.«
    Er dreht sich um und fährt sie an: »Wie würdest du das denn nennen?«
    Sie weiß es nicht. Sie hatte gehofft, er könne es ihr sagen.
    »Du bist eine farbige Frau. Farbig. Es ist mir egal, wie hell du bist. Ich weiß nicht, was für Flausen dir diese weiße Musik in den Kopf–«
    »Daddy, du hast immer gesagt, nur das Weiße macht uns schwarz. Das Weiße macht uns zum Problem.«
    Meine Schuhsohle, die ist schwarz. Die Kohle, von der wir zu viel verbrennen, ist schwarz.
    »Untersteh dich, mir das Wort im Munde umzudrehen. Und tu nicht, als wüsstest du nicht, was du da machst. Du sagst aller Welt, dass dir kein Mann aus deiner eigenen Rasse gut genug –«
    »Aber hier geht es doch nicht um Rasse.«
    Er bleibt stehen, dann setzt er sich in seinen roten Ledersessel. Er fixiert sie mit einem bohrenden Blick, wie eine Simulantin. »Ach nein ...? Erzähl das mal den Weißen. Und das wirst du tun müssen, junge Dame. Jede Minute deines Lebens. Auf eine Art und Weise, die du dir nicht im Traum vorstellen kannst.«
    Sie müht sich, seinem Blick stand zu halten, aber seine Augen durchbohren sie. Sie muss den Blick abwenden, sonst wird sie verbrennen. Aus seinen siegreichen Augen spricht der Widerstand gegen vierhundert Jahre Gewalt aus allen Richtungen.
    »Wenn es nicht um Rasse geht, worum geht es dann?«
    Liebe, will sie sagen. Zwischen zwei Menschen, die beide nicht darum gebeten haben. Die beide nicht wissen, was sie tun sollen oder wo sie eine Heimat finden, die groß genug ist für die Angst, mit der sie jetzt leben müssen.
    Er kehrt ihr den Rücken und wendet sich wieder seinen Büchern zu. Er öffnet den Terminkalender auf dem Schreibtisch und greift zum Stift, als wolle er einen endgültigen Schlussstrich ziehen. Er hebt die Hand, lässt sie dann schwer auf die Kladde fallen. Er dreht sich um und sieht sie von neuem an. Er senkt die Stimme, und der schreckliche, verschwörerische Flüsterton lässt ihn umso bedrohlicher klingen. »Worum geht es? Du als Expertin kannst mir das sicher sagen. Was willst du beweisen?«
    Was immer sie beweisen könnte, er hat es längst widerlegt. Trotzdem starrt er sie an, blanke Ratlosigkeit, auf der Suche nach einem Weg aus der Verwirrung. Hast du denn keinen Stolz? Habe ich dich gar nichts gelehrt in all den Jahren ?
    »Ein farbiges Mädchen«, sagt sie mit tonloser Stimme; vergessen ist alles, was sie je über Stimmansatz, Körperhaltung und Atemstütze gelernt hat. »Wenn ein farbiges Mädchen heranwächst, aufs College geht, lernt was es will, sich nimmt, was es braucht, wenn es ist, was es sein will und die Gesetze dieses Landes neu schreibt –« Ihre Stimme droht zu versagen. Aber sie hält stand. »Wer soll sie aufhalten? Was ist daran falsch?«
    Seine eigenen Worte, aber mit ihrer Stimme. Er hört genau, was dieses Echo sie kostet, wie viel sie riskiert. Dieses Mädchen hat mehr Rückgrat als er ihr gegeben hat. Er verstummt, ein gebanntes Publikum. Vorn aus der ersten Reihe sieht er sein Leben vorüberziehen, fremd und dabei doch vertraut, vorgezeichnet und doch offen für Veränderungen. Ihre Stimme schwebt in der Luft. Wie viel Musik könnte diese Stimme machen. Was könnte diese Musik nicht alles bewirken. Er lässt die Schultern sinken. Der eiserne Griff der Geschichte lockert sich. Er geht nicht so weit, dass er verzeiht, genauso wenig wie die Weißen ihm je verzeihen werden, dass er sich erinnert. »Nichts«, sagt er und wendet die Augen ab. »Nichts ist daran falsch.«
    Das Schlimmste scheint überstanden, aber nichts an diesem Albtraum wird je wirklich überstanden sein. Die Bürde wird immer auf ihr lasten, der Beweis und die Leugnung des Beweises. Aber sie wird leben, trotz allem. Ihr Fleisch und Blut wird sie nicht verstoßen. Das Gefühl der Dankbarkeit ist so übermächtig, dass es überfließt. Ihre schluchzenden Lippen formen starren,

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