Der Klang der Zeit
wortlosen Dank, und sie beugt sich unter dem Gewicht der Geborgenheit.
Er bietet ihr ein Taschentuch an, aber nicht seine Schulter. Die Bedrohung ist noch immer gegenwärtig. Nur die schlimmste Krise ist für den Augenblick gebannt. Als ihre Tränen versiegen, fragt er: »Was macht dieser Mann?«
Sie kichert. Sie kann nicht anders. »Wenn ich das wüsste, Daddy.«
Sofort flammt der Zorn wieder auf. »Willst du damit sagen, der Mann ist ein Herumtreiber, der in anderer Leute Müll wühlt? Oder ein reiches Muttersöhnchen, das noch nie im Leben einen Finger krumm gemacht hat?«
Ihr Lachen stirbt noch in der Wiege. »Nein, Daddy. Er ist Professor an der Columbia-Universität. Naturwissenschaftler. Er arbeitete in der Forschung.« Sie bemüht sich, ihr Gesicht unter Kontrolle zu halten, frei von den gekrümmten Kurven, die laut David sogar in den geradesten Linien stecken. »Er beschäftigt sich mit der Allgemeinen Relativitätstheorie.«
Ihr gebildeter Vater ist genauso verblüfft wie sie, als sie zum ersten Mal hörte, dass man mit so etwas seinen Lebensunterhalt verdienen kann. Zweifel und Ehrfurcht, die unzertrennlichen Halbbrüder, mischen sich auf Dr. Daleys Gesicht. Die Geheimnisse, die ihn beschäftigen, gehen nicht minder tief als die, an die er am liebsten nicht denkt. »Ich dachte, es gibt auf der ganzen Welt nur ein halbes Dutzend Menschen, die davon etwas verstehen.«
»Kann gut sein.« Hoffnung keimt auf, aber sie will sie um keinen Preis zeigen. Es wird ein Treffen geben. Ihr Vater, der Autodidakt, hat ein paar Fragen an den Fachmann. »Ich weiß nicht, wie viele es gibt, aber David ist einer davon.«
»David?« Ihr Vater hat seine Schwierigkeiten mit der Physik. Vor allem mit der Optik. Seit Generationen gibt es einen geheimen Maßstab in ihrer Familie, was ihn zu ihrer Mutter hingezogen hat: so hell wie möglich, so nah wie möglich an der unsichtbaren Grenze, aber niemals darüber. Darüber – das ist Verrat, unvorstellbar, selbst wenn auf den Schritten dorthin nie jemand die Loyalität infrage stellt. Er überlegt: Wenn nun ein anderer, nicht er selbst, diese Verbindung verböte? Wenn ein anderer erklärte, das weißeste Weiß sei für seine Tochter tabu. Dann würde er sein Leben dafür einsetzen, dass sie diesen Ausländer bekäme, selbst wenn er noch so sehr überzeugt war, dass er nicht der Richtige für sie war. »Was sagt denn seine Familie dazu?« Er fragt zögernd, unsicher, aus Angst vor der ewigen Demütigung.
»Wozu?«, fragt sie scheinheilig. Aber sie senkt den Blick.
Der Mann weiß nicht, wo seine Familie ist. Sie sind geflohen, aus dem Rheinland nach Seeland; Sicherheit für ein paar Monate, bestenfalls. Er hat schon mehrfach nach Europa geschrieben, aber keine zufrieden stellende Auskunft bekommen. Die Nachricht von Davids Brautwahl wird bei seiner Familie, wenn überhaupt, ankommen wie eine Botschaft aus einer fernen Galaxis – kalt, luftlos, ohne Belang.
»Er ist Jude, Daddy.«
Die Nachricht muss ihr Vater erst verarbeiten. »Weiß deine Mutter das?«
Delia stöhnt leise. »Ein gottloser jüdischer Ausländer.«
»Das nenne ich gründliche Arbeit. Wo zum Teufel bist du diesem Mann begegnet?«
Das wüsste sie selbst gern, aber sie kann sich nicht erinnern. Im einen Augenblick sang sie laut vor sich hin, ein willenloses Werkzeug für das Orakel der Göttin Miss Anderson, im nächsten kannte sie diesen Deutschen schon seit Jahrzehnten. Nein: Dazwischen hatte es noch einen Augenblick gegeben, eines dieser geometrischen Gebilde, die sie einfach nicht begreifen kann – endlich und doch unendlich teilbar.
Etwas ist mit ihr geschehen, mit ihrem Land, als die Altistin es mit ihrer Stimme zum Leben erweckte. Der grenzenlose Teppich der Menge verschluckte sie, eine einzige pulsierende, atemlose Kreatur aus 75 000 einzelnen Zellen, verschmolzen durch diese Stimme. Der Mann stand die ganze Zeit neben ihr, aber sie sah ihn nicht. Sie hatte in diesem meilenweiten Gewebe keinen einzigen Farbflecken wahrgenommen, ehe dieser eine sie an der Schulter berührte.
Sind Sie Sängerin von Beruf?
Delia erkannte den deutschen Akzent sofort. Der Klang, der unverwechselbare Tonfall dieser Sprache hatte sie in den letzten drei Jahren oft genug gequält.
Sie strahlte. Dann antwortete sie in stockendem Deutsch: Noch nicht.
Aber Sie möchten es werden? In der Zukunft?
Da erst wurde ihr klar, was er sagte. Wieso ... Meine Güte. Sie haben mich gehört? Die ganze Zeit?
Er versuchte ernst zu
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