Der Klang der Zeit
die Orientierung. Welchen Meilenstein hielt diese Landkarte für sie bereit? Sein Blick schien frei von allem Äußerlichen, ruhte ganz in sich selbst. Sie fühlte sich wie befreit darin. Er sah sie nur hier, an diesem weiten, offenen Ort, den Miss Anderson vor knapp einer Stunde besungen hatte. My country. Sweet land.
Die Quadratmeile Bundesterritorium leerte sich allmählich. Die Nation von Zuhörern kehrte widerstrebend nach Hause zurück, wie sie selbst es jetzt auch tun mussten. Aber vorher hatte der Deutsche noch hundert Fragen an sie. Wie ließen sich die Noten am oberen Rand des Stimm-umfangs am besten stärken? Wer waren die besten Liedkomponisten, die es derzeit in Amerika gab? Was genau war dieser »Gospel Train« und hielt er irgendwo in der Nähe?
Sie fragte, ob er Musiker sei. Vielleicht in einem anderen Leben. Sie wollte wissen, was er in diesem Leben tat. Er sagte es ihr, und sie fing an zu kichern. Absurd, dass man sein Geld mit der Erforschung von etwas derart Offensichtlichem verdienen konnte, etwas, woran sich so wenig ändern ließ.
In stillem Einvernehmen schlenderten sie an der lang gestreckten spiegelnden Wasserfläche entlang zu dem Denkmal, wo die Menge sich noch immer um den jüngst geweihten Ort drängte. Sie plauderten über Wien und Philadelphia, als seien sie beide auf den langen Weg geschickt worden, um einander über die Konzerte zu berichten, die der andere nicht besuchen konnte. Sie nahm sich fest vor, die Coda dieses unver–gesslichen Tages ebenfalls im Gedächtnis zu behalten. Erst als sie das Denkmal erreichten, ihren imaginären Zielort, den Rand der gemeinsamen Welt, geriet ihr Gespräch ins Stocken.
Wieder sah sie den Mann an. Sie spürte, wie er ihren Blick erwiderte, ein geschichtsloser Blick. Das war schön, dass wir über Musik reden konnten, sagte sie. Es kommt nicht oft vor ...
Nicht oft ist noch untertrieben, stimmte er zu.
Wieder sehen, sagte sie auf Deutsch. Lebewohl.
Ja, antwortete er. Good bye.
Dann sahen sie das Kind. Ein kleiner Junge, nicht älter als elf, hatte sich offenbar verlaufen und lief weinend am Rand der gleichgültigen Menge hin und her, verzweifelt auf der Suche nach denen, die er verloren hatte. Er rannte zur einen Seite, rief Bruchstücke von Namen und musterte ängstlich die Gesichter der Erwachsenen, die an ihm vorüberzogen. Dann, in immer größerer Panik, wiederholte er das Gleiche auf der anderen Seite.
Ein farbiger Junge. Einer von ihren Leuten, dachte sie und fragte sich, ob dieser Deutsche dasselbe dachte. Aber es war David Strom, der das Kind ansprach. Was ist passiert?
Das Kind hob den Blick. Das weiße Gesicht, der schroffe deutsche Tonfall ließ den Jungen Reißaus nehmen. Über die Schulter blickte er zurück zu seinen stehen gebliebenen Verfolgern. Ebenso instinktiv rief Delia im Singsang der Südstaaten: Ist schon gut. Wir tun dir doch nichts. Sie stürzte durch ein Loch zurück in die Vergangenheit ihrer Mutter in Carolina, und alles nur wegen der Art, wie sich die Stirn des Jungen wölbte. Er stammte womöglich aus Süd-Chicago, aus Detroit, Harlem oder Collingwood in Kanada, der Endstation der Underground Railroad, die einst die Sklaven in die Freiheit gebracht hatte. Kam vielleicht aus einer viel angeseheneren Familie als sie. Trotzdem sprach sie ihn in diesem Tonfall an.
Der Junge blieb stehen und musterte sie mit zusammengekniffenen Augen, kam zögernd näher, wie ein scheues, hungriges Tier, das vorsichtig den Köder in der Falle beäugt. Sein Misstrauen galt vor allem dem weißen Mann an ihrer Seite. Er sah Delia an. Wohnst du hier?
Sein Akzent überraschte sie; sie konnte ihn keinem Ort zuordnen. Nicht weit von hier, sagte sie mit einer vagen Handbewegung. David Strom tat das Klügste und schwieg. Und was ist mit dir?
Die Stimme des Jungen überschlug sich bei der Antwort. Delia war, als hätte sie Kalifornien gehört, aber sie war sich nicht sicher: Es war so unwahrscheinlich und der Junge schluchzte so heftig.
Alles wird gut. Wir helfen dir, deine Leute finden.
Das Gesicht des Jungen hellte sich auf. Mein Bruder hat sich verlaufen, erklärte er.
Delia warf David Strom einen verstohlenen Blick zu. Sie unterdrückte ein Grinsen. Doch auf dem Gesicht des Wissenschaftlers keine Spur von Heiterkeit. Nichts als das Problem, das es zu lösen galt. Und in diesem Augenblick war ihr klar: Selbst wenn es sonst nichts gab, eines würde sie für den Rest des imaginären Lebens mit diesem Mann teilen – Vertrauen.
Ich
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