Der Klang der Zeit
»Jeden Menschen.«
»Du hast eine Verpflichtung«, sagte Pa eindringlich. »Du musst deine Gabe pflegen und der Natur für ihr Geschenk etwas zurückgeben.«
»Was ist mit Joey? Der spielt viel besser Klavier als ich. Und er kann auch leichter vom Blatt singen.« Wie ein kleines Kind: Der war's, nicht ich. »Wenn ihr mich da hinschickt, dann muss Joey mit. Ich will nicht auf eine Schule, wo Joey nicht hinkommt.«
»Du bist der Pfadfinder«, sagte Mama. Sie musste wissen, wie groß die Angst in ihm war. »Du gehst voraus, und ehe du dich versiehst, kommt er nach.«
Jetzt, zu spät, mussten unsere Eltern einsehen, dass sie uns zu viel zu Hause gelassen hatten. Der Hausunterricht war ein wissenschaftliches Experiment gewesen, und das Ergebnis waren zwei Gewächshausblüten. Sie sprachen darüber, leise, als sie sich hinter ihrer Schlafzimmertür zum Schlafengehen zurechtmachten und glaubten, wir könnten sie nicht hören.
»Meinst du, wir haben sie zu sehr behütet?« Pa klang unsicher, als wisse er nicht, wie er die Frage stellen solle.
»Ein solches Kind kann man nicht nach draußen lassen, so wie die Welt ist.« Die alte Vorstellung, diejenige, die sie zusammenhielt: Dass sie eine Seele großzogen und schützen mussten, die zu gut für diese Welt war.
»Aber vielleicht hätten wir trotzdem ... Die beiden haben keinen einzigen richtigen Freund.«
Die Stimme meiner Mutter wechselte in ein höheres Register. »Sie kennen andere Jungen. Sie verstehen sich mit den besseren.« Aber ich konnte heraushören, dass sie sich eigentlich etwas anderes wünschte. Ihr Plan war nicht aufgegangen, und irgendwie lag es an uns. Ich wäre gern hineingegangen und hätte ihnen erzählt, wie sie mit Steinen nach uns warfen, welche Wörter sie riefen, all die Gemeinheiten, die wir für uns behielten, damit unsere Eltern sich keine Sorgen machten. Feigling. Halbblut. Ich hörte, wie Mama die Schildpattbürste auf den Toilettentisch fiel, hörte das unterdrückte Schluchzen.
Und ich hörte Pa, wie er sie in den Arm nahm, wie er sich entschuldigte. »Sie haben einander. Sie werden andere kennen lernen, die sind wie sie. Wenn sie die richtigen finden, werden sie auch Freunde haben.«
Ein Bekannter von Pa vom Mathematischen Institut von Columbia, ein Oboist, lag ihm schon länger in den Ohren, er solle uns für die lutherische Gemeinde der Universität singen lassen. Doch unsere Eltern hatten immer abgelehnt. Mama ging mit uns in die Kirchen in unserem Viertel, wo unsere drei Stimmen im allgemeinen Gospelgesang aufgingen. Ansonsten hatten sie uns von der korrumpierenden Welt der öffentlichen Auftritte abgeschirmt. »Meine Jungs sind Sänger«, sagte sie, »keine dressierten Seehunde.« Woraufhin Jonah jedes Mal zu bellen anfing und die Unterseiten seiner Flossen applaudierend aneinander schlug.
Aber jetzt fanden unsere Eltern, die Lutheraner könnten Jonah auf den größeren Schritt des kommenden Herbstes vorbereiten. Auftritte in der Kirche sollten uns immun machen gegen die gefährlicheren Viren der Außenwelt. Unsere ersten Ausflüge zu den Chorproben waren Expeditionen in unbekannte Länder. Donnerstags abends fuhren Pa, Jonah und ich mit der Linie 2, der Seventh Avenue Local, hinunter nach Morningside Heights; zurück nahmen wir ein Taxi, und mein Bruder und ich zankten uns regelmäßig darum, wer vorn neben dem Fahrer sitzen und sich auf Pseudo-Italienisch mit ihm unterhalten durfte. Bei den ersten Proben starrten uns alle an. Aber Jonah war eine Sensation. Der Chorleiter ließ sich immer wieder neue Vorwände einfallen, nur um meinen Bruder allein singen zu hören.
In dem Chor gab es eine Reihe von talentierten Amateuren, gebildete Akademiker, deren größte Seligkeit es war, zweimal pro Woche in die Welt der verlorenen Harmonien einzutauchen. Ein paar kräftige Stimmen und einige Berufsmusiker, die ihre Mitgliedschaft im Chor als Dienst an der Allgemeinheit verstanden, trugen ihr Scherflein dazu bei. Zwei Wochen lang sangen wir nichts weiter als die blutlosen Kirchenlieder des protestantischen Nordens. Schon in so jungen Jahren hatten Jonah und ich nicht viel übrig für diese langweiligen, vorhersehbaren Melodien. Zu Hause in Hamilton Heights trieben wir unsere Spaße mit den Texten – »O Jesus, mein Käse, o Käse, Erlöser.« Sonntags aber waren wir mit Feuereifer bei der Sache und sangen sogar die banalsten Melodien, als hinge unser Seelenheil davon ab.
Eine der echten Altistinnen des Chors, eine ausgebildete
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