Der Klang der Zeit
Sängerin namens Lois Helmer, fasste von dem Augenblick an, als seine Stimme zum ersten Mal auf der muffigen Chorempore erscholl, ihre eigenen Pläne mit meinem Bruder. Für sie war er das Kind, das sie ihrer bescheidenen Sängerkarriere zuliebe nie gehabt hatte. Mit Jonahs glockenheller Stimme konnte sie die Anerkennung erlangen, die ihr selbst bisher versagt geblieben war.
Miss Helmer hatte ein Organ, das die Pfeifen der Kirchenorgel mühelos übertönte. Aber sie musste in einem Alter sein – Jonah schätzte sie auf 101 –, in dem ihre eigenen Orgelpfeifen bald den ersten Rost ansetzen würden. Bevor dies geschah und sie verstummen ließ, wollte sie ihr Können an einem ganz persönlichen Lieblingsstück beweisen, dem nach ihren Begriffen noch nie eine Aufführung gerecht geworden war. In Jonahs glasklarem Sopran hatte sie endlich das Instrument ihrer Erlösung gefunden.
Damals konnte ich es noch nicht wissen, aber Miss Helmer war ihrer Zeit gut zwanzig Jahre voraus. Lange bevor die rasende Entwicklung der Plattenindustrie zur Geburtshelferin der Alten Musik wurde, vertraten sie und ein paar andere Sänger mit ähnlich reinen Stimmen in einem Meer des Vibrato die Ansicht, dass für Musik aus der Zeit vor 1750 Präzision wichtiger war als »Wärme«. Damals galt überall die Devise »Je größer, desto besser«. In Bethlehem, Pennsylvania, gab es noch Jahr für Jahr die gigantischen Aufführungen der Bach-Passionen mit Tausenden von Mitwirkenden, Kirchenmusik im Atomzeitalter, wo die schiere Masse eine schwerfällige spirituelle Energie freisetzte. Im Gegensatz dazu war Miss Helmer überzeugt, dass Gott aus der komplexen Polyphonie gern die einzelnen Stimmen heraushörte. Je schlichter die Linie, desto größer die Erhebung. Denn Energie war auch Leichtigkeit hoch zwei.
Ihr Leben lang hatte sie das wunderbare Duett aus der Kantate Nummer 78 singen wollen, als Beweis dafür, dass das Kleine schön war und Leichtigkeit alles. Aber nie hatte sie eine Sopranistin getroffen, deren Vibrato weniger als einen Viertelton umfasste. Dann hörte sie die ätherische Knabenstimme, vielleicht die erste seit Bachs Thomasschule in Leipzig, die dem jubilierenden Ton gerecht werden konnte. Sie sprach mit Mr. Peirson, dem Chorleiter, einem anämischen Anhänger des Andantes, der im Glauben lebte, er könne sich ein ruhiges Eckchen im lutherischen Fegefeuer sichern, wenn er nur die Zeitmaße beachtete und seine Zuhörer nicht vor den Kopf stieß. Mr. Peirson zögerte, und er kapitulierte erst, als Lois Helmer drohte, ihre Stimme fortan in den Dienst der Episkopalkirche zu stellen. Mr. Peirson räumte für die Aufführung das Podium, und Lois Helmer trieb in Windeseile einen guten Cellisten auf, der den pulsierenden Violone-Part übernahm.
Eine zweite große Idee beseelte Miss Helmer: Musik und Text sollten aufeinander bezogen sein. Albert Schweitzer vertrat diese Ansicht schon seit Jahrzehnten und hatte bereits von der Wortmalerei bei Bach gesprochen, noch bevor Einstein – der Geigenspieler, der dem Leben
meines Bruders die entscheidende Wendung gab – die universelle Zeit aus den Angeln hob. In der alltäglichen Praxis jedoch hatte Bachs Musik, unabhängig vom Text, immer die gleiche klebrig-zähe Patina, die man von den Gemälden alter Meister kannte, die goldene Dämmerung, die Museumsbesucher für vergeistigt hielten, obwohl es in Wirklichkeit nichts als Schmutz war.
Miss Helmers Bach würde genau das tun, was im Text stand. Wenn das Duett mit den Worten »Wir eilen mit schwachen, doch emsigen Schritten« begann, dann würden sie auch eilen. Sie drangsalierte die Continuospieler, bis sie das Tempo erreichten, das ihr vorschwebte, ein Drittel schneller als das Stück sonst gespielt wurde. Sie beschimpfte die verblüfften Musiker bei den Proben, und Jonah genoss jeden einzelnen Fluch.
Er selbst stand natürlich bereit, im Sturmschritt durch die Arie zu eilen, mit der Leichtigkeit des Lichts. Wenn Jonah sang, selbst bei den Proben, wenn er seine Stimme erhob vor Leuten, die nicht so waren wie wir, dann schämte ich mich, als verrieten wir das Geheimnis unserer Familie. Er folgte dieser Frau Schritt für Schritt, Phrase für Phrase, ein Wunderkind, das bereitwillig lernt, was der Dompteur ihm beibringt, bis die lockere, spielerische Nachahmung schließlich in perfekten Gleich-klang mündete, als hätten beide ein Mittel gefunden, das Gespenst ihres eigenen Echos einzufangen und wieder mit ihm zu verschmelzen.
Am Sonntag
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