Der Klang der Zeit
der Aufführung standen Jonah und ich ganz vorn am Geländer der Empore, beide im schwarzen Blazer und roter Fliege – Pa hatte seine gesamten topologischen Kenntnisse mobilisiert, um sie zu binden. Wir reckten uns auf unserem Ausguck und beobachteten das ruhelose Hin und Her der Gemeindemitglieder in den Bankreihen – wie glänzende Käfer unter einem umgedrehten Stein sahen sie aus. Pa, Mama und Ruth kamen spät und suchten sich einen Platz ganz hinten, da wo sich niemand durch ihre Anwesenheit belästigt fühlen konnte.
Das Lied kam nach der Lesung. In den meisten Wochen ging dieser Augenblick spurlos vorüber, ein Stückchen spirituelle Tapete, das die Kunden der göttlichen Gnade kurz begutachteten und wieder beiseite legten. Doch in dieser Woche klang die hüpfende Cello-Begleitung so energisch, dass sich selbst die, die längst eingedöst waren, freudig erschreckt in ihren Bänken aufrichteten.
Aus acht munteren Takten erhebt sich der Sopran, ein strahlender Krokus, der über Nacht den wintermüden Rasen erobert hat. Ein einfacher Kunstgriff setzt die Melodie in Bewegung: Auf das ruhende Do im unruhigen Auftakt, folgt zu Beginn des nächsten Takts ein nach Auflösung drängendes Re. Einmal in Schwung gebracht, klettert der Sopran immer weiter empor, im Wettlauf mit seinem eigenen Spiegelbild im Alt. Dann stürmen beide Stimmen scheinbar unvermittelt den gleichen, unumgänglichen und doch überraschenden Abhang hinunter, erhellt von vereinzelten Sonnenstrahlen und gleißendem Licht. Die verschlungenen Linien wachsen über sich hinaus, verschmelzen mit ihren Verfolgern, unbändige Freude, erreichen auf kunstvoll verschlungenen Pfaden den vorgezeichneten Ort.
Acht Cellotakte, dann erklang Jonahs schwerelose Stimme aus der Tiefe der Kirche. Er sang so mühelos wie andere reden. Seine Stimme zerschnitt die dumpfe Düsternis des Kalten Krieges und traf die Morgengemeinde wie ein Hieb. Dann setzte Lois ein; die messerscharfe Klarheit der Knabenstimme war ihr ein Ansporn, und ihre Stimme hatte einen Glanz, wie sie ihn seit ihrer eigenen Konfirmation nicht mehr erreicht hatte. Wir eilen mit schwachen, doch emsigen Schritten. Ach höre. Ach höre!
Doch wohin eilten wir? Dieses Geheimnis vermochte ich mit meinen neun Jahren nicht zu lüften. Sie eilten, um diesem Jesu zu helfen. Andererseits erhoben wir unsere Stimmen und baten um seine Hilfe. Soweit ich verstand, widersprach das Lied sich selbst, war so gespalten wie mein Bruder; man konnte nicht sagen, wer wem half. Irgendwer hatte die englische Übersetzung verdorben, und dem Original konnte ich nicht folgen. Mama sprach nur Gesangstunden-Deutsch, und Pa, der kurz vor dem Krieg geflohen war, machte sich nie die Mühe, uns mehr von seiner Sprache beizubringen als das, was wir zum gemeinsamen Singen am Klavier brauchten.
Doch das Deutsche verhallte in dem Lichtstrahl, der über der Gemeinde lag. Die Stimme meines Bruders überspülte die Bänke der Be-tuchten, und Jahre der blassen nordischen Beherrschtheit schmolzen in diesem Klang dahin. Die Leute drehten sich um, trotz Jesu Gebot, sie sollten glauben, ohne zu sehen. Lois und mein Bruder segelten Seite an Seite, ihre feinen Ornamente drangen mitten ins Herz der kunstvoll verschlungenen Melodie. Sie überholten einander und wichen sich aus, ein melancholischer Hinweis auf die Kranken und Irrenden, dann liefen sie strahlend den heimischen Hafen an, einen Hafen, der in drei weiteren Modulationen immer tiefer in die Ferne des sich öffnenden Raums rückte. Zu Dir. Zu Dir. Zu Dir. Selbst Mr. Peirson konnte seine bebende Unterlippe nur mit Mühe ruhig halten. Nach der ersten Strophe gab er den Versuch ganz auf.
Als das Cello sein letztes da capo gespielt und der stimmgewaltige Zweierbob die letzte Steilkurve genommen hatte, endete das Lied da, wo alle Lieder enden: in vollkommener Stille. Ein paar ergriffene Zuhörer begingen sogar die schlimmste aller lutherischen Sünden und applau-dierten in der Kirche. Das Abendmahl an diesem Tag war schal im Vergleich.
Im allgemeinen Chaos nach dem Gottesdienst hielt ich Ausschau nach meinem Bruder. Lois Helmer küsste ihn. Er warf mir einen warnenden Blick zu, und ich wagte nicht einmal zu kichern. Er ließ Miss Helmer gewähren; sie drückte ihn an sich, dann ließ sie ihn los. Sie wirkte erschöpft und zufrieden, wie jemand der sein Lebensziel erreicht hat. Als sei sie schon tot.
Unsere Familie trottete hinaus auf die Straße, wollte sich wie üblich unauffällig
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