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Der Klang der Zeit

Der Klang der Zeit

Titel: Der Klang der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Powers
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davonmachen. Aber sie hatten meinen Bruder schon entdeckt. Wildfremde Leute kamen und umarmten ihn. Ein alter Mann – der seinen letzten Sonntag auf Gottes Erde erlebte – betrachtete Jonah lange mit einem wissenden Blick und hielt seine Hand, als wolle er sie nie wieder loslassen. »Das war der schönste Händel, den ich in meinem ganzen Leben gehört habe.«
    Wir entwischten ihm, und im Laufen prusteten wir los. Zwei Damen fingen uns im Flug. Sie hatten uns etwas Großes mitzuteilen, ein Geheimnis, das sie eigentlich nicht verraten durften, aber sie konnten nicht anders. Sie waren wie Mädchen in unserem eigenen Alter. »Junger Mann«, sagte die Größere von beiden. »Wir wollten nur sagen, was für eine Ehre es für uns ist, dass ... dass eine Stimme wie die deine in unserer Kirche singt.« Wie die deine. Was war das für ein Osterei, das wir suchen sollten? »Ich kann dir gar nicht sagen ...« Die Stimme klang belegt. Ihre Freundin legte ihr eine weiß behandschuhte Hand auf den Arm und machte ihr Mut. »Ich kann dir gar nicht sagen, wie viel mir das bedeutet, mir persönlich, dass ein kleiner Negerjunge etwas so Wunderbares singt. In unserer Kirche. Für uns.«
    Die Stimme brach, Tränen traten ihr in die Augen. Mein Bruder und ich grinsten uns an. Jonah wandte sich lächelnd an die Damen, verzieh ihnen ihre Unwissenheit. »Oh, Ma'am, wir sind keine richtigen Neger. Nur unsere Mutter!«
    Nun waren die beiden Erwachsenen an der Reihe, Blicke zu wechseln. Die mit den Handschuhen fuhr Jonah über den roten Haarschopf. Sie traten einen Schritt zurück und sahen sich an, die Augenbrauen gehoben, fassten sich am Arm, rangen um die rechte Antwort. Doch das war der Augenblick, in dem Pa, der genug von Menschenmengen und
    Christen, selbst den akademisch gebildeten, hatte, zurück ins Kirchenschiff kam, um uns zu holen.
    »Jetzt kommt schon, ihr zwei. Bevor euer alter Herr noch ganz verhungert.« Es war ein Satz, den er aus einer der Comedyshows im Radio aufgeschnappt hatte, die er so vergötterte, »Baby Snooks« oder »The Al-drich Family«. »Bringt euren alten Daddy nach Hause zum Mittagessen. Sonst ist es aus mit ihm.«
    Die Damen wichen zurück wie vor einem Gespenst. Ihre Welt brach in sich zusammen, schneller als sie sie wieder erbauen konnten. Ich wandte den Blick ab, schämte mich genauso wie sie. Pa winkte Jonahs Bewun-derern zu, eine Geste der Entschuldigung, dass er ihn entführte. Eine einzige lässige Handbewegung des Physikers genügte, und all ihre so hart erarbeitete Großzügigkeit und Toleranz löste sich in Luft auf.
    Die ersten drei Taxis, denen wir auf dem Broadway Zeichen gaben, hielten für uns nicht an. Auf der Fahrt im vierten summte Mama die ganze Zeit Bachs jubilierende kleine Melodie vor sich hin. Wir Jungs saßen rechts und links von ihr, Ruth hatte sie auf dem Schoß. Pa saß vorn. Sie trug ein schwarzes Seidenkleid, mit kleinen weißen Lämmchen bedruckt, so winzig, dass man sie für Punkte halten konnte. Auf dem Kopf hatte sie ein keckes Hütchen mit einem schwarzen Netz, das sie wie einen halben Schleier vors Gesicht zog – »eure Mutter hat wieder ihre Jarmulke auf«, sagte Pa. Sie war schöner als jeder Filmstar, so schön, wie Joan Fontaine gerne sein wollte. Sie fuhr in einem Taxi den Broadway hinunter und sang, umgeben von ihrer glücklichen Familie, sie war schwarz, noch immer jung, und fünf Minuten lang frei.
    Aber mein Bruder war in Gedanken anderswo. »Mama«, fragte er. »Du bist doch Negerin, oder? Und Pa ist ... so eine Art Jude. Was sind wir denn dann, ich und Joey und Ruth?«
    Meine Mutter hörte auf zu singen. Ich hätte Jonah am liebsten ins Gesicht geschlagen und wusste nicht, warum. Mama blickte in die Ferne, zu dem, was jenseits der Klänge liegen musste. Pa rutschte auf dem Sitz hin und her. Auf diese Frage und auf jede einzelne, die darauf folgen würde, warteten sie seit Jahren. »Ihr macht eure eigene Rasse auf«, erklärte unser Vater. Ich fand, es klang, als schösse er uns hinaus in den eisigen Weltraum.
    Ruth, auf dem Schoß unserer Mutter, lachte dem strahlenden Tag ins Gesicht. »Joey ist ein Nee-ger. Und Jonah ist ein Ger-nee.«
    Mama blickte ihr kleines Mädchen mit einem zerknitterten Lächeln an. Sie schlug ihren Schleier zurück und hielt Ruthie in die Höhe. Sie stupste sie mit der Nase in die Brust und summte dazu weiter die bachsche Melodie. Mit zwei starken Bärenarmen schloss sie uns beide in die Umarmung ein. »Ihr seid, was ihr in eurem

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