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Der Klang der Zeit

Der Klang der Zeit

Titel: Der Klang der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Powers
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sein Fleisch, mal tiefer, mal weniger tief, je nach der Intensität und Dramatik des Augenblicks, den sie mit Hilfe des elektrischen Mediums durchlebt.
    Sie kennt die Musik von Generationen, hat in dem Dritteljahrhundert ihres eigenen Lebens bereits mehrere davon erlebt. Sie baut die Stimme meines Bruders auf, ohne sie wirklich zu ändern. Und doch ist die Veränderung, die sie bei Jonah bewirkt, dramatisch. Sie öffnet seine Kehle, gibt seinen Vokalen Farbe und Schliff in allen Bereichen. Sie ist die erste Lehrerin, die ihn lehrt, wie seine Zunge und seine Lippen funktionieren. Die Erste, die ihn lehrt, dass zu viel Perfektion tödlich ist. Aber ihre wichtigste Lektion ist viel härter. Miss Soer lehrt meinen Bruder, was Hunger ist.
    Ich höre es, noch bevor ich es sehe. Das Leben im Village macht ihn ungeduldig. Nichts geht ihm schnell genug. Der Beat ist tot. Die Jazzszene, erklärt er, kreist nur noch um sich selbst. Seiner Faszination für die klassische Avantgarde geht der Atem aus. »Seit Henry Cowell fällt denen auch nichts wirklich Neues mehr ein.« Cage und die Zen-Buddhisten langweilen ihn nur, und selbst die Langeweile hoch vier hilft nicht weiter. Wenn wir nicht gerade auf Tournee sind, zieht er rastlos durch die Straßen und lauscht anderen Stimmen, dringt in andere Räume ein.
    Der Hunger, den sie weckt, zeigt sich auf der Bühne. Wir singen in Camden, Maine, auf einer provisorischen Bühne am Strand, die bei jedem Anbranden der Wellen ein wenig ins Wanken gerät. Er singt »When I am one-and-twenty«, »Bin ich erst einundzwanzig«, und legt dabei so viel Nachdruck auf die Worte, als wolle er allein durch die Aussprache den torfweichen Text zum Diamanten komprimieren. Er sucht etwas, in den Worten, den Tönen, dem Publikum und in mir. Lisette hat ihm beigebracht, wie man verhindert, dass ein Drama rührselig wird. Auf dem musikalischen Höhepunkt, im Augenblick der höchsten Intensität, muss man auf Distanz gehen. Vergiss die lodernden Gefühlsausbrüche; du musst das Unerträgliche in deinem Innersten einschließen, die Glut auf einen winzigen Funken reduzieren.
    Sein Hunger bekommt ein Ziel. Er beginnt wieder zu lesen – Mann, Hesse, die Bücher, die schon János Reményi ihm empfohlen hat, Jahrzehnte bevor Jonah auch nur hoffen konnte, sie zu verstehen. Selbst jetzt ist er noch viel zu jung dafür. Aber er schleppt sie mit zum Gesangunterricht, weil er Lisette Soer damit imponieren will. Sie ist entsetzt. Sie findet sie abstoßend, viel zu germanisch. Sie empfiehlt ihm Dumas oder doch wenigstens Hugo.
    »Wusstest du, dass Dumas ein Schwarzer war?« Das ist Jonah neu. Er fragt sich, weshalb sie ihm das erzählt.
    Er muss sehen, was auf ihn zukommt. Nicht mehr lange, dann muss sich der weiße Eisberg vor seinen Augen auftürmen, selbst wenn der Nebel, in dem er steckt, noch weißer ist. Aber ich schweige; die Frau tut viel für uns. Ich lerne unendlich viel von ihr, aus zweiter Hand – über Musik und vor allem über die Welt der Musik.
    Wir stehen in einem Pizza-Imbiss an der Houston Street und tun so, als seien wir Studenten, die den Abend genießen und sich daran freuen, wie er mit der vorüberhastenden Menge verschmilzt. »Muli? Sag, hast du in deiner Collegezeit mal mit jemandem geschlafen?«
    Einen Augenblick lang klingt er wie eine alte Ehefrau, die ihren Mann nach langer Zeit mit einem lang gehegten Verdacht konfrontiert, einem Verdacht, der sie schon längst nicht mehr beunruhigt, weil es ohnehin keine Rolle mehr spielt.
    »Du meinst außer den Schauspielerinnen, Zigeunermädchen, Schwind-süchtigen und herzensguten Kurtisanen?«
    Er fährt zusammen und starrt mich an, dann zeigt er mir den erhobenen Mittelfinger. »Ich meine wirklich. Nicht in deiner kranken Phantasie.«
    »Oh. Du meinst wirklich.« Ich frage mich, ob ich überhaupt je den Wunsch hatte, mit einer wirklichen Person zu schlafen. In dem einen Augenblick, in dem ich tatsächlich so etwas wie Liebe empfunden hatte – als ich der Frau in dem dunkelblauen Kleid zwanzig Häuserblocks weit folgte –, war davon keine Rede. »Glaubst du denn, ich hätte auch nur an so etwas denken können, ohne dass du es gemerkt hättest?«
    Seine Lippen zucken ein wenig, und er verbirgt sie hinter einem Stück Pizza. Er kaut und schluckt. »Auch nicht beinah?«
    Ich tue so, als müsse ich nachdenken, während mir das Blut in den Adern hämmert. »Nein.«
    »Und danach?«
    »Nein.« Du hast mich ja nie aus den Augen gelassen. »Aber wo wir

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