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Der Klang der Zeit

Der Klang der Zeit

Titel: Der Klang der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Powers
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voll fremder Menschen umwerben kann.
    Aber Jonah grinst nur. »Das wäre nun auch wieder übertrieben, Muli. Schließlich ist es nur eine Zugabe.«
    Ich weiß, was er will, ohne dass er es mir erst erklären muss. Nach dem tosenden Beifall, nachdem wir zum zweiten Mal vor den Vorhang getreten sind und uns verbeugt haben, wirft mein Bruder mir einen Blick zu: Alles klar? Ich spiele vom Blatt, habe Angst, das Schicksal herauszufordern, und lasse das Publikum trotzdem spüren, dass dies nicht der normale Ablauf ist. Ich weiß, was Jonah will: All die wunderbaren Dissonanzen sollen ans strahlende Tageslicht kommen. Er will, dass ich die verborgenen düsteren Schatten in dieser unbekümmerten Heiterkeit hörbar mache, als Hintergrund für die optimistische Melodie. Vielleicht möchte er sogar, dass ich ein paar zusätzliche Misstöne einbaue. Er will die Melodie strahlend, heiter, in Dur, umspült von bedrohlichen Dissonanzen.
    Der Ort, den wir an diesem Abend erschaffen, ist zu klein für Lisette Soer, so klein und hart und glänzend, dass niemand außer mir und meinem Bruder ihn überhaupt zu sehen vermag. Dreh dich nicht um: Der Teufel geht um. One more river to cross – der nächste Fluss zu queren. Schließ fest die Tür, den Schlüssel dreh um. One more river to cross. Da ist Meredith, der studieren will, und da die Armee, Tote obendrein, wie letztes Jahr, wie nächstes Jahr. Wir werden uns nie finden. One more river, noch ein blutiger Jordan. Und noch einer danach.
    Keiner im Publikum ahnt, wovon er eigentlich singt. Die Dinge, die heute Abend draußen in der Welt geschehen, geschehen anderswo. Der Teufel ist nah, doch keiner dreht sich nach ihm um. Ein neuer Fluss, one more river to cross. Aber die Menge hört das Lied: Amerikanische Hausmannskost nach all den deutschen und italienischen Delikatessen, die wir ihnen den Abend über serviert haben. Hier draußen in der Gluthitze der Wüste, wo sogar die Kakteen verdorren und die Flussläufe schon so lange ausgetrocknet sind, dass in ihren Betten das Dorngestrüpp mannshoch wuchert, nimmt das Publikum diesen uralten Refrain mit nach Hause in die stuckverzierten Hazienden, zu den Rasenflächen mit importiertem Gras aus Kentucky, in die Stadt, die sie aus den benach-barten Reservaten herausgeschnitten haben, doppelt gestohlenes Land. Und wenn sie sich zur Ruhe legen, raubt die Erinnerung an den Kunst-genuss ihnen den Schlaf. One more river to cross.
    Jonahs Lied ändert nichts in Mississippi. Es trägt weder dazu bei, ein neues Amerika zu schaffen, noch ein altes zu begraben. Meredith hätte unsere Interpretation vermutlich nicht einmal gemocht. Aber eine unsichtbare Wirkung hat das Spiritual doch, in einer sehr viel winzigeren Nation. »Wie hat es geklungen?«, fragt Jonah mich hinter der Bühne.
    Und ich sage es ihm: »Großartig.«
    Als wir wieder zu Hause sind, erzählt er Lisette Soer die Geschichte. Ihr Gesicht wird so rot wie ihr Haar, als sie erfährt, dass wir eigenmächtig das Programm geändert haben. Als sie die Einzelheiten hört, lenkt sie ein, immer noch verschnupft. Es gibt eben Kräfte, an die sich sogar Strasberg und das Actors Studio nicht heranwagen. Kräfte, von denen auch sie lieber die Finger lässt.
    Sie werden unzertrennlich, mein Bruder und Madame Soer; so eng wie mit ihr war mein Bruder noch mit keinem seiner Lehrer verbunden, außer mit Reményi. So nahe war er niemandem seit dem Brand. Sie bittet ihn, in einer offenen Meisterklasse zu singen, zusammen mit vier viel versprechenden Schülerinnen. Sie will, dass er sich den erbarmungslosen Ohren der Ostküste aussetzt. Sie hören bis zum späten Abend alte Plattenaufnahmen von großen, längst verstorbenen Tenören – Miguel Fleta, Aroldo Lindi – so lange, bis einer aus ihrer großen Verehrerschar auftaucht und den Jungen nach Hause schickt.
    Ihre Stereoanlage ist fünfzigmal teurer als der Plattenspieler, den wir vor Jahren von unseren Eltern bekommen hatten. Nach diesen Ausflügen in die Welt des Hörens kommt mein Bruder nach Hause und schüttelt fassungslos den Kopf. »Muli, wir wussten nicht einmal, dass es diese Leute gibt. Es ist einfach unglaublich, wozu sie fähig sind!«
    Lisette spricht kein Wort bei diesen Seancen, genau wie Jonah und ich, wenn wir zusammen im Dunkeln saßen und lauschten. Worte sind für sie tabu, solange die Musik spielt und in den Minuten danach. Als einzigen Kommentar fasst sie ihn am Oberarm; die langen Fingernägel des lyrischen Soprans bohren sich in

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