Der Klang der Zeit
Schauspiel – das heißt Teilnahme an der einen großen, Millionen Jahre alten Katastrophe des menschlichen Lebens. Die Götter, könnte man sagen, haben sich gegen uns verschworen. Wir stehen allein auf der leeren Bühne, vor uns fünfhundert Konzertbesucher, die ein Erlebnis, ein Ereignis erwarten. Dass man die Noten trifft, ist die geringste Sorge. Selbst wenn man das hohe C vier Takte lang hält, hilft das nicht viel, jemandes Weltanschauung zu verändern. »Du musst dahin gehen, wo der Schmerz echt ist«, sagt sie ihm. Ihre rechte Hand krallt sich an ihr Schlüsselbein beim Gedächtnis an vergangenen Schrecken. Gibt es schon einen Ort in deinem jungen Leben, an dem du das erfahren hast?
Diesen Ort gibt es, die Adresse ist ihm eingebrannt. Tiefer als sie wissen kann. Jahre hat er damit zugebracht, vor jeder Erinnerung daran zu fliehen. Doch jetzt unter Lisettes Anleitung lernt er, bewusst dorthin zurückzukehren, das Unglück gegen sich selbst zu wenden, im Feuer die einzig mögliche Antwort auf das Feuer zu finden. Unter den Fingern dieser Frau öffnet seine Stimme sich. Sie macht eine Stimme daraus, die den Naumburg-Preis bekommen, nach Paris gehen könnte, alles tun, wonach dem Sänger der Sinn steht.
Sie macht ihn mit dem Konzertagenten Milton Weisman bekannt, einem Impresario der alten Schule, der seine ersten Talente schon vor dem Ersten Weltkrieg unter Vertrag nahm und immer noch im Geschäft ist, weil die Arbeit die beste Alternative zum Tod ist. Er bestellt uns in seine gerümplige Höhle an der 34. Straße. Die Hochglanzfotos, die Lisette von Jonah gemacht hat, sind ihm nicht gut genug; er will uns leibhaftig sehen. Mein Leben lang habe ich geglaubt, bei Musik drehe sich alles um den Klang. Milton Weisman weiß es besser. Er muss die Künstler gesehen haben, bevor er überlegt, wo er sie buchen kann.
Mr. Weisman trägt einen doppelreihigen Nadelstreifenanzug mit Schulterpolstern, wie aus einem Gangsterfilm. Er führt uns in sein Büro und fragt: »Wollt ihr eine Limonade, Jungs? Ginger Ale?« Jonah und ich tragen leichte schwarze Jacken mit schmalen Krawatten, konservativ für jeden in unserem Alter, für Mr. Weisman jedoch das untrügliche Zeichen, dass er es mit Beatniks oder Schlimmerem zu tun hat. Lisette Soer trägt eine hauchzarte Diaghilev-Fantasie, eine Kreation, die das Indien der Maharadschas heraufbeschwört. Herbert Gember, der angesehene Kostümbildner am City Center, ist einer ihrer Liebhaber, oder jedenfalls vermuten wir das – vielleicht ist es auch eine reine Zweckbe-ziehung. Lisette zählt zu den Opernstars, die auf der Bühne schlechter angezogen sind als im Leben.
Wir plaudern mit Mr. Weisman über seine Proteges der alten Zeit. Er hat ein halbes Dutzend berühmter Tenöre unter Vertrag gehabt. Jonah will alles über diese Männer wissen: Was sie aßen, wie viel sie schliefen, wie gesprächig sie am Morgen vor einem Konzert waren. Er sucht nach einer Formel, nach einem sicheren Rezept. Mr. Weisman geht der Stoff nie aus, er kann über diese Sachen reden, solange er Zuhörer hat. Mich hätte interessiert, ob die Berühmtheiten freundlich waren, ob sie für ihre Familien gesorgt haben, ob sie glücklich aussahen. Aber das kommt nie zur Sprache.
Während er redet, ist Milton Weisman ständig in seinem voll gestopften Büro in Bewegung, verstellt die Jalousie, betrachtet uns von allen Seiten. Er blickt uns nie ins Gesicht, aber selbst aus den Augenwinkeln sieht er, was er sehen will. Der alte Konzertagent malt sich aus, wie wir im Rampenlicht wirken werden, und zieht in Gedanken die Grenzen : Chicago mit Sicherheit, Louisville vielleicht, Memphis auf keinen Fall.
Eine halbe Stunde später schüttelt er uns die Hand und sagt, er könne uns Arbeit verschaffen. Das erstaunt mich, denn wir haben ja bereits Angebote. Aber Lisette ist außer sich vor Freude. Auf dem Rückweg kneift sie Jonah unablässig in die Wange. »Weißt du, was das heißt? Der Mann hat Einfluss. Die Leute hören auf ihn.« Es fehlt nicht viel, und sie sagt: Er macht dich zum Star.
Sie schicken uns auf Tournee in die Provinz. »Lieder«, sagt Lisette, »sind schwieriger als Opern. Du musst bei deinem Publikum Emotionen erzeugen, ganz ohne Hilfsmittel, nur mit der Stimme. Deine Hände sind gefesselt. Wenn du die Worte in der Kehle formst, musst du die Bewegungen deines Körpers fühlen, selbst wenn du ganz still stehst. Du musst die unsichtbare Bewegung so vermitteln, dass deine Zuhörer sie sehen.«
Das ist die
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