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Der Klang der Zeit

Der Klang der Zeit

Titel: Der Klang der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Powers
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Beschwörungsformel, die sie uns mit auf den Weg gibt, und sie wirkt. Die Zuhörer auf dem Land reagieren mehr wie Fußballfans, nicht so steif wie das übliche Konzertpublikum. Sie kommen hinter die Bühne. Sie wollen uns kennen lernen, uns von den Tragödien erzählen, die ihr Leben verändert haben. Die Aufmerksamkeit bleibt nicht ohne Wirkung bei Jonah. Ich muss ihn jetzt genauer beobachten, wenn wir spielen. Selbst bei Stücken, die wir so oft geübt haben, dass sie uns fast in Fleisch und Blut übergegangen sind, kann es vorkommen, dass er einzelne Passagen plötzlich mit einer kleinen Zäsur oder einem Rubato ausschmückt, winzige Nuancen, die nicht einmal ein aufmerksamer Zuhörer bemerken würde, es sei denn, ich wäre im entscheidenden Augenblick nicht auf der Hut.
    Mr. Weisman kennt sich aus, er weiß, wie wir ohne Zwischenfälle von Ort zu Ort gelangen. In größeren Städten findet er bisweilen Vertreter des örtlichen Kulturlebens, die sich geradezu darum reißen, uns unter ihrem Dach zu beherbergen. In kleineren Städten entwickeln wir bald ein Gespür dafür, in welchen Hotels gepflegte junge Männer mit gepflegter Ausdrucksweise unbehelligt absteigen können. Jonah regelt die Formalitäten an der Rezeption, während ich mich dezent im Hintergrund halte. Sobald wir merken, dass es Schwierigkeiten gibt, treten wir den Rückzug an und nehmen ein Hotel weiter ab von den Konzertsälen, wo wir vor begeistertem Publikum Schumanns Dichterliebe aufführen.
    An dem Abend, als wir in Tucson, Arizona, auftreten – in einem roten Ziegelbau, dessen Balkon eher an die Separees eines Bordells erinnert –, hören wir von James Meredith und seinem Versuch, sich an der Universität von Mississippi einzuschreiben. Wieder erscheint die Armee, zumindest der Teil, der noch nicht damit beschäftigt ist, die wankenden Diktatoren dieser Welt zu stützen. Dreiundzwanzigtausend Soldaten, Hunderte von Verletzten und zwei Tote – nur, damit ein einzelner Mensch sein Recht, auf eine Universität zu gehen, wahrnehmen kann.
    In der Garderobe – grün getünchte Hohlblocksteine – reicht Jonah mir ein Notenblatt und verkündet: »Wir streichen den Ives. Das hier ist unsere Zugabe.« Ohne den leisesten Zweifel, dass es eine Zugabe geben wird. Ohne Zweifel, dass ich den Ersatz vom Blatt spielen kann. Genau genommen ist das neue Stück ein Kinderspiel im Vergleich zu dem schwierigen, polytonalen Ives – einem Lied, das nicht nur Jonahs Sehnsucht nach der Avantgarde befriedigt, sondern im Publikum auch nostalgische Erinnerungen an das volkstümliche »Turkey in the Straw« wachruft.
    »Das ist nicht dein Ernst«, sage ich.
    »Wieso? Kennst du die Melodie nicht?«
    Selbstverständlich kenne ich die Melodie. Ich kenne sogar dieses spezielle Arrangement: »Oh Wasn't Dat a Wide Ribber?«, für Klavier und Gesang eingerichtet von dem großen Harry Burleigh. Jonah muss es die ganze Zeit mit sich herumgeschleppt haben, für genau so eine Situation. Das Arrangement ist schlicht und sehr gut für das Klavier geeignet. Es hält sich eng an die vertraute Melodie, ist aber durchzogen von flüch-tigen Tönen, die das Lied in andere Gefilde entführen. Ein Blick genügt, dann könnte ich das Stück blind spielen.
    »Natürlich kenne ich die Melodie, Jonah. Aber kannst du mir sagen, was du damit vorhast?«
    »Das tue ich doch. Genau in diesem Augenblick.« Er nimmt mir das Notenblatt aus der Hand und bringt überall kleine Bleistiftmarkierungen an.
    »Kommt nicht infrage. Wir machen das nicht, ohne es vorher zu üben.«
    »Wir sind in Tucson, Arizona, Bruderherz. Wyatt Earp. Die Schießerei am O. K. Corral.« Er spricht es aus wie Choral. Und macht sich weiter an dem Notenblatt zu schaffen. »Das ist der Wilde Westen. Wir können uns hier unmöglich beim Üben erwischen lassen.«
    Ich nehme das Notenblatt wieder an mich, jetzt übersät mit seinen gekritzelten Zeichen. Ich betrachte die Bleistiftmarkierungen und sehe schon die Schlagzeilen. »Du willst also die Karten auf den Tisch legen, Jonah ?« Das ist unfair. Er hat nie versucht, etwas zu verbergen. Hat sich immer zu dem bekannt, was er ist: Ein dunkelhäutiger, leicht semitisch aussehender, lockiger Mischling, der zufällig europäische Kunstlieder singt. Ich hasse mich, kaum dass ich die Worte ausgesprochen habe. Es ist der Tourneestress, die schlaflose Nacht im Zug von Denver hierher. Er braucht einen Klavierbegleiter, der gerne auftritt, dem es Freude macht, wenn er einen Konzertsaal

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