Der Klang der Zeit
Lied vom Widerstand anstimmen: »Ain't gonna let nobody turn me round ...«
Auch das Publikum weiß, wie es in Birmingham aussieht; Walter Cronkite hat es ihnen in seiner Nachrichtensendung am frühen Abend vorgeführt. Sie wissen, was dort unten passiert, way down in Egypt land. Es herrscht Stille, nachdem Jonah seinen letzten Ton gesungen hat: hart, strahlend und piano. Aber die Zuhörer wissen nicht recht, was sie mit dieser Mischung anfangen sollen, diesem Feldzug für eine gerechte Sache, der sich in die Gefilde der schönen Künste geschlichen hat. Selbst beifälliges Klatschen scheint irgendwie fehl am Platze.
Unsere Engagements nehmen zu – und die Proteste ebenfalls. Sie erschüttern Hunderte von Städten in Nord und Süd, auch die, in denen wir auftreten. Doch wir verpassen jedes Mal die Demonstrationen, sind entweder einen Tag vorher oder zwei Tage später da. Wir feilen an unserer neuen Zugabe und nehmen sie in unser ständiges Repertoire auf. Lisette erfährt davon nichts.
Sie kümmert sich mehr um das Bild, das wir in der Öffentlichkeit abgeben. »Jonie«, sagt sie, und er lässt sich das tatsächlich gefallen, »du stehst im Rampenlicht. Dein Markenzeichen ist die Mühelosigkeit. Hüte dich vor allem Schweren, Salbungsvollen. Such dir Stücke aus, bei denen du diese Leichtigkeit zur Geltung bringen kannst.« Sie verhindert, dass er etwas singt, das nach 1930 geschrieben wurde. Sie bewaffnet ihn mit einem Arsenal von blitzenden kleinen Schrotkugeln, keine länger als zwei Minuten. Sie füttert ihn mit Fauré. Eine Zeit lang schwört sie auf Delius. Jonah singt »Maud« und »A Late Lark«, aber es ist gerade so, als träte er in pastellfarbenen Strumpfhosen auf die Bühne.
Lisette treibt ihm die Tricks aus, mit denen er seine Schwächen verschleiert. Sie sorgt dafür, dass er alle Bereiche seiner Stimme zu einem einzigen glanzvollen Bogen verbindet. Niemand hat je das in ihm gehört, was sie in ihm hört. Niemand ihn je so herausgefordert wie sie. Die Unterrichtsstunden sind wie gesungene Duelle. Wenn sie ihn beiseite schiebt und die Führung übernimmt, klingt ihre Stimme wie Messing nach seinen Bronzetönen. Sein Instrument ist klangvoller als das ihre. Aber mit ihrer Ausstrahlung, ihrer Präsenz kann mein Bruder nicht mithalten. Sie muss die Noten nur denken, dann strömen sie hervor wie der mühelose Nachhall ihrer Gedanken. Ihr Gesang bestimmt sein Schicksal. Nicht einmal ich kann mich abwenden.
Sie drängt sich an ihn, presst seinen Brustkorb zusammen und versetzt ihm sanfte Schläge in die Flanke, legt ihm ihre kühlende Hand in den Nacken. Es ist eine Art liebevolle Grausamkeit, sie foltert ihn durch ihre Berührungen. Aber so lernen sie jetzt am besten, im ständigen Ringen, dem Austausch von Informationen über die Haut.
»Du musst mächtig werden«, sagt sie. »Und ich meine nicht deinen Körper; nicht einmal die Lautstärke.« Er muss lernen, nicht nur mit seinem Gesang, sondern mit seiner Seele bis in die dunklen Ecken der finstersten Konzertsäle vorzudringen. Eines Tages soll er die Opernbühnen im Sturm erobern und sich Gehör verschaffen. Aber bis dahin muss er die hohe, klare Kunst des Lieds perfektionieren, und das ist etwas völlig anderes.
Sie will, dass wir die Welt der Oper wirklich kennen lernen, in den Schützengräben, unter feindlichem Beschuss. Sie schenkt uns zwei Karten für ihren bevorstehenden Auftritt – als Fiordiligi in Così fan tutte, unter der Leitung von Rudolph Bing. »Mozart?«, stichelt Jonah. »Was war der doch gleich für ein Landsmann?«
Sie greift ihm unter das Kinn, wie einst Maria Theresia dem komponierenden Wunderkind. »Na ganz bestimmt kein Deutscher, Schätzchen. Wie du bald merken wirst, liebte er italienische Libretti. Und wenn er hätte wählen können, hätte er in Paris gelebt.«
Ihre Gelassenheit täuscht darüber hinweg, wie viel auf dem Spiel steht. Eine Rolle in Così , an der Met. Sie wirkt allenfalls ein wenig gehetzt. »Ein Augenblick entscheidet nicht über ein ganzes Leben«, sagt sie. Wir wis-sen, dass sie lügt.
Sie gibt uns die kostbaren Eintrittskarten und scheucht uns weg. »Macht euch einen schönen Abend, Jungs. Ich bin die mit der großen Perücke und dem weißen Reifrock.«
Wir tragen die Abendanzüge, in denen wir sonst selbst auftreten. Das ist übertrieben, aber vielleicht gibt es ja Schwierigkeiten am Eingang. Auf dem Weg hinunter zum Broadway und zur 39. Straße hoffen wir, dass man uns anstandslos einlässt.
Weitere Kostenlose Bücher