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Der Klang der Zeit

Der Klang der Zeit

Titel: Der Klang der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Powers
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Die Karten, die wir von Lisette bekommen, sind großartig, ein paar Reihen hinter dem Block, in dem ihre Familie sitzt. Jonah wartet, dass der Vorhang aufgeht, beißt sich die Fingernägel blutig. Er leidet Höllenqualen; es ist schlimmer als alles, was er je vor einem eigenen Auftritt durchgemacht hat. Hier, auf Augenhöhe, sieht er all das, was seiner Lehrerin oben hinter den gleißenden Schein-werfern verborgen bleibt.
    »Spürst du das?«, fragt er. Ich nicke und glaube, er meine die knisternde Spannung. »Sie wollen ihr Blut. Sie wollen, dass sie sich blamiert.«
    Das ist Unsinn. Schließlich ist es nur eine mittelgroße Rolle in Mozarts »schwieriger« Oper, derjenigen, die keiner so richtig versteht. Ein Verriss würde sie schlimmstenfalls für ein oder zwei Jahre zurück nach San Francisco verbannen, und ein Triumph verschafft ihr bestenfalls die Chance, Bing noch ein zweites Mal zu beweisen, was sie kann.
    »Du spinnst, Jonah. Warum sollte ihr denn jemand Böses wollen?«
    »Ja, was denkst du denn? Weil es Spaß macht. Das Drama, das sie in ihrem eigenen langweiligen Leben nicht kennen. Sieh dich doch um. Diese Leute lechzen danach, dass jemand auf die Schnauze fällt. Das wäre echte Oper.«
    Aber als der Vorhang sich hebt, vergisst Jonah die Sorgen um das Schicksal seiner Lehrerin und fragt sich stattdessen, ob Fiordiligi ihrem schwächlichen Liebhaber wohl treu bleiben wird. Vom ersten Ton der Ouvertüre ist er ganz in die Oper versunken. Liebt sie ihren Offizier denn nicht? Warum macht es ihr so wenig aus, als er ins Feld zieht? Wieso durchschaut sie diese Albanesen mit ihren Turbanen nicht, aufgemacht wie Karnevalstürken ?
    Er versenkt sich so tief, dass man in der Pause kein vernünftiges Wort mit ihm sprechen kann. Er wünscht Despina und Alfonso die Pest an den Hals. Nur unverbrüchliche Treue kann ihren hinterhältigen Plan noch vereiteln. Aber das Publikum rundum diskutiert die Aufführung. Sie urteilen über Orchester, Dirigenten, Sänger, Mozart – entscheiden, wen sie am Leben lassen und wer sterben muss für die Sünden der Menschheit. Ich bin inzwischen erfahren genug und weiß, dass ich den Mund halten muss, damit sie nicht ihre Wasserschläuche auf mich halten. Die Matrone neben mir blättert in ihrem Programm. »Wer ist dieses hübsche Ding, das die Standhafte singt?«
    Ihr Begleiter, ein leichenblasser Mann, hüstelt. »Die Soer meinst du? Die ist ziemlich bekannt. Gilt als große Hoffnung. Immer gut für die zweite Besetzung bei einer Hauptrolle. Schafft es vielleicht noch ganz nach oben.«
    »Aber sie ist gut, findest du nicht auch?« Ich blicke hinüber zu Jonah, doch der viel zu beschäftigt mit den Gefahren des ersten Akts ist und eifersüchtig die Unschuld seiner Lehrerin bewacht. »Hier steht nicht, von wo sie kommt. Ist sie Französin oder so etwas?«
    Der Leichenblasse schnaubt nur verächtlich. »Lisa Sawyer. Vater kommt aus Milwaukee. Bierbrauer, soviel ich weiß. Was sie da unten für Bier halten.« Er blättert rasch die Seiten um. »Hmm. Das sagen sie nicht.«
    Die Frau gibt ihm einen Klaps auf die Schulter. »Lästermaul. Was meinst du, sind die Haare echt?«
    »›Tut sie's oder tut sie's nicht ?‹ Das weiß anscheinend nur die Hälfte der Stadt.«
    Diesmal bekommt er einen Schlag auf die Finger mit dem zusammengerollten Programm.
    Jonah erwacht aus seiner Trance. »Was hältst du von den Tempi?«, frage ich. Er zählt mir sämtliche Stellen auf, an denen sie nicht stimmten, aus dem Gedächtnis.
    Der Vorhang hebt sich zum zweiten Akt, und wieder geht es um Tod oder Leben. Während Lisettes zweiter großer Arie klammert sich Jonah an die Armlehnen, überzeugt, dass sie schwach wird und sich diesem Pseudo-Albanier hingibt, dem Bräutigam ihrer Schwester und ihres eigenen Verlobten bester Freund. Das tun doch alle. Liebt sie diesen anderen? Warum klingt es, als sie schließlich nachgibt, so viel süßer als vorher die Treue ? Ihr ganzer Körper seufzt, so aufregend ist ihr Fall.
    Lisette ist nicht immer perfekt. Einige Höhen klingen schrill, und bei den raschen, hüpfenden Läufen schleift sie ein wenig. Und doch singt sie überirdisch. Sie ergreift von der Bühne Besitz, sie hat nie irgendwo anders gelebt als in dieser Geschichte, nie etwas anderes gespürt als den Zauber dieser einen Nacht. Fiordiligi hat geduldig gewartet, bis sie nach langem Überwintern in genau so einem geschmeidigen Körper erwacht. Nie hatte ich eine Sängerin erlebt, die so schamlos körperliches

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