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Der Klang der Zeit

Der Klang der Zeit

Titel: Der Klang der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Powers
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schon dabei sind –«
    »Wie viele ... was glaubst du, wie viele Männer sie hat?« Es gibt nur eine »sie« in unserem Leben. Er will nicht, dass ich wirklich zähle, und ich tue es auch nicht.
    Die Atemnot, unter der er während der Vorbereitung auf den Wettbewerb um Amerikas neue Stimme litt, kehrt zurück. Es passiert an einem Sonntagnachmittag, unmittelbar vor einem Auftritt in Boston, wo wir seit unserer Zeit an der Akademie nicht mehr gewesen sind. Zehn Minuten vor dem Auftritt beginnt er so heftig zu keuchen, dass er fast das Bewusstsein verliert. Ich sage dem Intendanten, er soll das Konzert absagen und einen Arzt rufen. Jonah protestiert, obwohl er fast erstickt. Wir treten auf – mit zwanzig Minuten Verspätung. Das Konzert ist bestenfalls mittelmäßig. Aber Jonah singt mit höchster Intensität. Nach dem Konzert strömen die Besucher hinter die Bühne. Reményi ist nicht darunter, und auch keiner von unseren ehemaligen Lehrern und Freun-den.
    Als wir wieder in New York sind, zwingt Lisette ihn, zum Arzt zu gehen. Sie will ihm sogar das Geld für die Untersuchung leihen. Ich bin ihr ungeheuer dankbar: Auf sie hört er mehr als auf mich. Alles in Ordnung, sagt der Arzt. »Alles in Ordnung, Muli«, wiederholt Jonah, und sein Blick huscht hektisch durch das Wartezimmer, als wollten die Wände ihn erdrücken.
    Jetzt wo ich weiß, dass die Panikattacken vorübergehen, kann ich besser damit umgehen. Ich verliere nicht mehr so schnell die Nerven und kann ihn leichter beruhigen. Manchmal hat es fast den Anschein, als könne er den Zeitpunkt der Anfälle selbst bestimmen, immer gerade so, dass er der Katastrophe mit knapper Not entgeht: Die Anfälle kommen am frühen Nachmittag vor einem Konzert oder bei dem Empfang unmittelbar danach.
    Allein im Januar 1963 gastieren wir in acht Orten: Große Städte auf der Suche nach jungen Talenten, mittelgroße Städte, die so tun, als seien sie groß, kleine Städte auf der Suche nach bezahlbaren Kulturveranstal-tungen, Provinznester, die aus historischen Gründen an ihren europä-ischen Wurzeln festhalten. Vielleicht haben ihre Großväter früher in Deutschland Stehplatzkarten für das Stadttheater gekauft oder die kostenlosen Feiertagskonzerte vor dem Rathaus geliebt. Ihre Nachkommen bewahren die Formen, selbst wenn das ganze Umfeld längst verschwunden ist, so wie manche Leute ihre alten, massiven Musikschränke als Vitrinen für allerlei Nippes weiterverwenden.
    Wir haben keine Ahnung, was es mit Martin Luther Kings Confron-tation- Projekt auf sich hat, bis wir es in der Hotelhalle eines Zweisternehotels in Minneapolis mit eigenen Augen im Fernsehen sehen: Ein Polizeichef namens Bull Conner setzt fünf Wasserwerfer und eigens dafür abgerichtete Schäferhunde gegen Demonstranten ein, die unerlaubterweise »Marching to Freedom Land« singen. Die meisten Demonstranten sind Jahre jünger als wir. Jonah sieht sich diesen Marsch in die Freiheit an, von Minneapolis aus, und summt dazu »Tuxedo Junction«, Way down south in Birmingham, I mean south in Alabam', ohne dass er es merkt.
    Das Land im Fernsehen ist nicht unser Land. Auf den Straßen in der Reportage herrscht der Mob; es sind Bilder wie von einem osteuropäischen Aufstand, der mit Schaftstiefeln gewaltsam niedergetrampelt wird. Polizisten prügeln auf wehrlos am Boden liegende Kinder ein, zerren sie in Polizeiwagen und fahren mit ihnen davon. Der Strahl der Wasserwerfer lässt menschliche Körper hilflos über das Pflaster rollen und schleudert sie brutal gegen Ziegelmauern. Überall Chaos und Wasserfontänen, geschundene, geprügelte Gliedmaßen, zwei weiße Polizisten zerschlagen einem Jungen mit Gummiknüppeln das Gesicht, bis der schlecht bezahlte schwarze Hotelpage auf Weisung der Direktion einen anderen Sender einschaltet und ich zu einer letzten Mikrofonprobe in den Konzertsaal eile, bevor wir Minneapolis und St. Paul, die Twin Cities, mit unserer Musik beglücken.
    Für den heutigen Abend wählen wir eine andere Zugabe. Jonah flüstert es mir zu, als wir vor den Vorhang treten und uns verbeugen. »Go Down, Moses«, in d-Moll. Diesmal hat er nicht einmal die Noten dabei. Wir brauchen sie nicht. Ein guter alter Freund hat mir beigebracht, wie man improvisiert, wie man Noten aus der Luft fischt, die ebenso gut sind wie geschriebene. Jonah kennt den Text nicht auswendig, aber auch er findet die Worte. Er singt sie im selben Augenblick, in dem die Kinder in ihren Zellen unten im Gefängnis von Birmingham ihr

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