Der Klang der Zeit
dieselben Nummern wie immer, aber jedes Mal schiebt er die Grenzen ein Stück weiter hinaus. Er schwebt jetzt nicht mehr schwerelos auf Brahms' lange, dunkle Vorhaltetöne hinab. Jetzt trennt er sie ab, lässt sie hilflos auf halber Höhe hängen.
Wir nehmen den »Floral Bandit« ins Programm, als leichtgewichtiges Bonbon vor der Pause. Einmal, im Konzertsaal einer kleinen Universität im tiefsten Ohio, tut sich unter uns in der Bühne eine Falltür auf, und wir zeigen den Zuhörern das Innere dieses Lieds. Ich drücke nach wie vor die Tasten. Das Klavier muss auch weiterhin Töne hervorbringen, aber ich höre sie nicht mehr. Ich höre nur noch Jonah, die Fleisch gewordene Stimme, die selbst den lebenslangen Sünder zur Reue bewegt. Seine Melodien schweben im Äther, im stillen Mittelpunkt des Klangs.
»Was zum Teufel war das?«, frage ich hinterher, verstecke mich in den Kulissen vor dem Applaus. Er schüttelt nur den Kopf, stolpert auf die Bühne und verneigt sich noch einmal.
Die Kritiker, die ihm noch ein Jahr zuvor seine kalte Präzision ankreideten, schreiben nun von seiner Leidenschaft. Manchmal erwähnen sie auch mich: »ein Einklang, wie ihn nur die gemeinsame Herkunft hervorbringen kann.« Aber die meiste Zeit klingt es, als könne Jonah seine Lieder ebenso gut zu einer Jahrmarktsorgel singen. »Tief und emo-tional«, schreibt der Hartford Courant, »ein jugendlicher Einblick in die Tiefen und Höhen in uns allen.« All das tut Lisette für ihn. Von keinem seiner Lehrer lernt er mehr.
Aber noch ist seine Ausbildung nicht abgeschlossen. Sie verlegt den Unterricht zurück ins Studio, hebt sich die Wohnung für besondere Einladungen auf. Die Einladungen kommen seltener. Er darf tanzen, aber sie bestellt die Musik. Sie hingegen tanzt weiter, ohne ihn. Etwas an ihm erregt sie noch immer. Sie braucht ihn zur Erinnerung daran, wie sich ein Nur anfühlt, was ein Immer war. Die Kraft seiner Verzweiflung reißt sie mit.
Nach wie vor berührt sie ihn beim Singen, zeigt ihm, wo Muskeln sind, von deren Existenz er nichts wusste. Sie hält ihm neue Partien vor die Nase: Don Carlos, Pelleas, schwere Tenorrollen, vor denen selbst Männer, zehn Jahre älter als er, zurückschrecken. Eines Nachmittags sagt sie zu ihm: »Wir müssen jemanden für dich finden.«
»Jemanden wofür?«
»Jemanden für dich, Jonie.«
Die Stimme versagt ihm. »Einen anderen Lehrer, meinst du?«
Sie antwortet mit einem Laut tief in der Kehle, wie ein Miauen, legt ihre Hand auf die seine. »Ich könnte mir vorstellen, dass du ihr ein paar Sachen beibringst.«
»Ich verstehe nicht, was du sagen willst.«
»Ach, carol Keine Sorge.« Sie beugt sich vor und flüstert ihm ins Ohr. »Und was du von ihr lernst, das zeigst du dann mir.«
Eine ganze Woche lang ist er wie erschlagen. Vor Mittag bekomme ich ihn nicht aus dem Bett, dann dauert es noch einmal zwei Stunden, bis ich ihn am Frühstückstisch habe. Ich muss Mr. Weisman anrufen und zwei Auftritte absagen. Ich sage ihm, Jonah hat einen Bronchialkatarrh. Weis-man tobt.
Lisette ruft an. Ich überlege, ob ich ihn überhaupt an den Apparat holen soll, aber bevor ich noch zwei Worte sagen kann, weiß er, dass sie es ist. Schon ist er auf den Beinen und schubst mich beiseite. Minuten später steht er angezogen an der Tür.
»Wir müssen üben«, ermahne ich ihn. »Nächste Woche Pittsburgh.«
»Wir üben doch. Was meinst du, was ich tue?«
Als er zurückkehrt, nach Mitternacht, kann er wieder Bäume ausreißen. Am nächsten Tag nehmen wir unsere Proben wieder auf, und seine Stimme klingt so stark, er könnte die Krankheit der ganzen Welt damit heilen.
Aber die Welt will nicht geheilt werden. Im Juni, auf der Suche nach einer Konzertübertragung, hören wir im Radio eine Rede von Kennedy, sein um Ewigkeiten zu spätes Bekenntnis zur Bürgerrechtsbewegung. Vier Stunden später erschießt ein Heckenschütze, der vor dem Haus gewartet hat, den Leiter der NAACP im Staat Mississippi mit einem Schuss in den Rücken. Medgar Evers war die treibende Kraft hinter einer Wahl-rechtskampagne. Der Mörder wird freigesprochen. Während der Ver-handlung kommt der Gouverneur des Staates in den Gerichtssaal und schüttelt dem Mann die Hand.
Diesmal singen Jonah und ich keine spezielle Zugabe. »Sag mir, was wir machen sollen, Muli. Du kannst aussuchen, was du willst, ich singe es.« Aber ich weiß nicht, was wir machen sollen. Wir machen einfach mit dem weiter, was wir können. Holst und
Weitere Kostenlose Bücher