Der Klang der Zeit
gedankenverloren, als würde er es nicht bemerken oder sei gar nicht da. Dann spannt sie sich, schaudert, kommt noch einmal. Es geht so leicht, sie braucht kaum mehr als ihn zu spüren. Sie liegt da, ihr Gesicht im Kissen, die Worte sind gedämpft. Nicht zu entscheiden, an wen sie sie richtet. »Ich liebe eure Leute«, hört er.
Er erstarrt. Wie bitte?–, möchte er sagen, aber er traut sich nicht.
Sie redet mit diesem Knebel im Mund, dumpf, versonnen, mag den undeutlichen Klang der Worte. Sein Arm, straff um ihren Hals gespannt, löst sich wieder, als sie weiterplappert. Sie dreht sich auf den Rücken, bereit zu weiterem Spiel, legt ihm die Handfläche auf die schmächtige nackte Brust, damit er sich nicht rührt. »Was mache ich nur, damit du so bleibst?«
»Liebestränke«, antwortet er ihr. »Magie und Hexengebräu.«
»Nimmst du mich irgendwann mal mit zu dir nach Hause?« Seine Hand, die zwischen ihre Beine gewandert war, spannt sich wieder. »Nicht als ... Keiner müsste ... Schließlich bin ich auch deine Lehrerin.« Er zieht die Hand zurück wie ein Kabel von einer Batterie. Sie merkt es nicht oder tut, als merke sie es nicht. »Ihr ... habt einen Ort, der uns verschlossen ist. Wo das Leben so viel reicher ist. Ich möchte einfach nur dabei sein und ein bisschen davon spüren.«
Was für ein Ort? Was für ein Reichtum? Was für ein ihr? Jetzt im schwachen Lampenschein erkennt er sie: die Elendstouristin. Ein Suk–kubus gönnt sich etwas, berauscht sich an der Opferrolle seines Opfers. Er wendet sich ab. Aber doch nicht so sehr, dass er sich befreien könnte. In dem Augenblick, in dem er sich zurückzieht, geht ihm auf, wie kalt, wie steril die Flucht wäre. Wohin könnte er gehen, wenn er jetzt aufstünde, sich anzöge, diese Wohnung mit ihren Barockmöbeln ein für alle Mal verließe? Ihre Krankheit ist ja auch die Krankheit der Bühne, der großen Oper, die Welt, auf die er sich eingelassen hat. Wer sonst sollte ihn nehmen?
Er ist für diese Frau ein aufregendes braunes Spielzeug, ein Abenteuer, das sie nicht selbst erfahren kann. Er wüsste nicht, wie er ihr sagen sollte, wie sehr sie es missversteht. Die Leute, die sie liebt, sind nicht seine Leute. Er hasst sie ja schon dafür, dass sie überhaupt jemand ande-ren in ihm liebt und nicht ihn selbst. Aber er bekennt sich nicht zu seiner Wut, zu der Ein-Mann-Nation, die er ist.
Er wartet bis zur nächsten Nacht, bis sie nackt und befriedigt in seinen Armen liegt. »Du sagst, du möchtest irgendwann mit mir nach Hause kommen?«
Sie dreht sich um, fährt ihm über die Lippen. Sie kann sich nicht mehr erinnern. Dann: Ach so. Deine Familie. Sie sagt nichts. Sie ist zu einer neuen Rolle weitergezogen, einer verklärten asiatischen Schönheit, zer-brechliche Chinoiserie.
»Das können wir machen. Wenn du möchtest.«
»Mein Jonie.« Sein Puls hämmert. »Wo wohnt ihr?«
»Uptown«, antwortet er unbestimmt. Sie nickt, kann es sich vorstellen. Er spürt, wie sie allen Mut zusammennimmt, um nach der Straße zu fragen. In welches pittoreske Negerviertel wird er sie führen ? »Es ... ist ja nur noch mein Vater da. Und du musst wissen, er ist – nicht von hier.«
»Wirklich?« Die Spannung steigt.
»Er ist Deutscher.«
Ein Schlag ins Gesicht. Nicht einmal die Schauspielerin kann so schnell reagieren. »Tatsächlich? Von wo?«
Er spürt, wie sie ihm entgleitet, wie ein Publikum, das Canteloube erwartet und Schostakowitsch bekommt. Sie fragt, was seinen Vater nach Amerika gebracht hat. »Die Nazis«, sagt er. Jetzt ist sie eine japanische Maske.
»Du bist doch nicht etwa Jude?«
Und das bringt ihn dazu, dass er es mir endlich beichtet. Er kehrt zurück in eine Gemeinschaft, die stärker ist als jede Beziehung, die er zu ihr entwickeln könnte. »Sag mir, dass sie böse ist, Muli. Sag mir, dass diese Frau nichts taugt.«
Ich sage es ihm, aber er hört nicht auf mich.
»Im vierten Akt wird sie mich erdolchen«, sagt er. »Eine halbe Stunde lang werde ich über die Bühne stolpern und Blut spucken.«
»Alles nur eine Frage der Atemtechnik.« Ich weiß nicht, was ich sonst sagen soll. Ihm kommen die Tränen. Er will lachen und mir zugleich an den Kragen. Wir kehren zu unseren Übungen zurück. Die Musik eines anderen. Andere Leute.
Seine Stimme gewinnt sehr dabei. Er weiß jetzt, wie er quälen kann bis aufs Blut. Seine Läufe sind perfekter denn je. Aber seine Phrasen dringen in neue, Angst einflößende Bereiche vor. In den Konzerten singt er
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