Der Klang der Zeit
Schüler. Die Dame, die vor jedem Mann Musik entzweibricht mittenmang.
Sie lädt ihn in ihre Wohnung ein, eine abendliche Unterrichtsstunde, die er niemandem erklären muss außer mir. Er will es mir sagen, aber dann tut er es doch nicht. Das ist Musik. Das ist seine Arbeit. Als jemand anderes auf der Bühne stehen, nicht als er selbst. Wenn du nicht mehr sein kannst als du selbst, dann hast du dort oben nichts zu suchen. Ihre Höhle ist voller musikalischer Fetische – ihr Triumph in Paris, ein Verdi-Autograph, ein Foto, auf dem Gian Carlo Menotti den Arm um ihre jugendliche Hüfte legt. Die Möbel wirken, als stammten sie aus den Museen, zu denen Pa ihn in jungen Jahren schleppte. Sie zeigt ihm das Virginal aus dem achtzehnten Jahrhundert mit seinem bemalten Deckel und lässt ein paar zirpende Töne erklingen, eine sanfte, trügerische Kadenz.
Er spürt die kokette Aufforderung dieser Töne und streckt die Hand nach ihr aus, noch während sie spielt. Sie entzieht sich. »Du hast doch noch nicht einmal für mich gesungen!« Herausfordernd reckt sie das Kinn vor. »Woher soll ich wissen, ob du etwas kannst?«
Er singt noch einmal den Holst. Aber jetzt singt er, als hinge sein Leben von diesen Worten ab. Sie belohnt ihn, indem sie tut, als belohne sie sich selbst. Er hat etwas, das sie haben will: Das tut seine Wirkung in ihm, genau wie der Glaube an die höchste Intensität.
Sie ist seine Erste. Ich kann es nicht glauben. Immer habe ich mir ausgemalt, dass die Frauen sich ihm schon seit Jahren an den Hals werfen. Aber er hat sich aufgespart, war dieser einen treu, bevor er sie überhaupt kannte. Sie werden besser, Lektion um Lektion, vom ersten kehligen Laut bis zur kleinsten Feinheit der Atemtechnik. Bald sind sie so gut, dass sie immer weiterstudieren müssen. Sie zeigt ihm Dinge, die er nie vermutet hätte: Das ganze Leben öffnet sich vor ihm. Sie entdecken Orte, die es nie gegeben hat. Sie wird seine Schöpferin, seine Wärterin, seine Leiter. Sie bringt ihm bei, wo er sie berühren muss, sie spannt sich, stößt leise Laute aus, schmilzt dahin unter seinen Händen, sforzando, als hätte sie ihr Leben lang gewartet, dass jemand so auf ihrem Instrument spielt.
Seine Erste: Sie hat längst vergessen, was für ein Meilenstein das ist. Dazu hat sie zu viel Erfahrung gesammelt. All ihre Vergnügungen sind längst verfeinert. All die überraschten Entdeckungen längst untergegangen in Perfektion. Man könnte sagen, dieser Junge hilft ihr sich zu erinnern – das wild Entschlossene in seinem Gesicht, das schweißnass über dem ihren glüht. Sein Körper versenkt sich in den ihren und erstarrt, überwältigt von seiner Eroberung. Die Dankbarkeit, die sie in ihm weckt, bringt sie zu dem Augenblick zurück, an dem alles noch offen ist, alles ganz anders werden kann, als man es sich ausmalt. Anders als das, wozu es nun so unverrückbar geworden ist.
»Hörst du?«, fragt sie ihn eines Abends, bevor sie sich anzieht und ihn nach Hause schickt. »Hörst du, wie groß es dich macht?«
Er kichert wie ein Kind. »Ich wusste nicht, dass man es hören kann.«
Sie gibt ihm einen Klaps auf den Hintern. »Deine Stimme meine ich. Wie wir sie wachsen lassen.«
Er schwankt zwischen dem Unmöglichen und dem Unerträglichen. Zu viel, zu wenig: die wenigen Minuten Spiel, die sie ihm nach jeder Unterrichtsstunde gewährt. Seine Augen können sich nicht auf sie einstellen. Das arktische Weiß ihres Körpers blendet ihn. Er ist ihr Hündchen, schnüffelt an ihren Schenkeln, saugt den Jasminduft ihres Haars ein, bis sie anfängt zu kichern – »He, das kitzelt!« – und ihn wegscheucht. Seine Hände erforschen die Fremdartigkeit ihrer Haut: Den Spann ihres Fußes, die Kniekehlen, die Querfalte unter den Pobacken, die tektonischen Platten der Schulterblätter, wie sie aus dem Kontinent des Rückens emporragen. Unersättlich erkundet er jeden Zentimeter. Sie dämpft das Licht, ein kleiner Schutz vor dem gar zu intensiven Blick.
Im Halbdunkel legt er seinen Arm neben ihren. Der Kontrast zeigt ihm, wie schwarz er für sie ist. Und doch ist der Farbton seines Handrückens dem ihren näher als dem seiner eigenen Schwester. Und wo ihre Hüften sich im Dunkel berühren, gibt es überhaupt keinen Unterschied. Außer natürlich am Weg, der dorthin führt.
Sie sieht, wie er sie begutachtet, und rollt sich übermütig auf ihn. »Du! Wie kann ich dir alles zeigen?« Sie ist wie ein Kind in seinen Armen. Sie leckt ihn ab wie ein Kätzchen,
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