Der Klang der Zeit
Aussichtsplattform des Washington Monument schwenken über ein Menschenmeer, das zu beiden Seiten der spiegelnden Wasserfläche eine halbe Meile weit dahinwogt. Auf dieser halben Meile gibt es alle nur denkbaren Schattierungen: Zorn, Hoffnung, Schmerz, neuerwachte Kraft und, vor allen Dingen, Ungeduld.
Von der Mall schwappt Musik herüber – scheppernde High School-Blaskapellen, Kirchenchöre, Gospel singende Familienensembles, hastig zusammengestellte Jazzcombos mit stoisch-euphorischem Scatgesang – ein Leichenbegängnis so lang wie die Ostküste. Lieder dröhnen aus den allgegenwärtigen Lautsprechern über die offenen Flächen und brechen sich an den Klippen der öffentlichen Gebäude. Auf der Bühne eine bunte Mischung von Künstlern – Odetta und Joan Baez, Josh White und Bob Dylan, die berühmten Freedom Singers aus Albany. Aber die Woge von Musik, die die Marschierenden auf den großen Befreier zuträgt, ist selbst gemacht. Strudel und Wellenkämme aus Wörtern und Tönen: We shall overcome. We shall not be moved. Wildfremde Menschen, die sich nie zuvor gesehen haben, stimmen unvermittelt ein in den gleichen vielstimmigen Gesang. The one thing we did right was the day we began to fight. Da sind sie sich einig: Der beste Tag in ihrem Leben war der Tag, an dem sie den Kampf aufnahmen. Das Lied entwickelt eine ganz eigene Polyphonie. The only chain we can stand is the chain of hand in hand. Sie dulden keine Ketten, nur die Kette der
Hände, die sie sich reichen. Alles was war, trifft sich in diesem einen Jetzt. Woke up this morning with my mind on freedom. Heute Morgen bin ich aufgewacht und dachte an die Freiheit. Hallelujah.
David Strom hört die anschwellende Melodie wie im Traum. Der Klang versetzt ihn zurück zu einem früheren Ich, zu dem Tag, an dem er zum ersten Mal hier war, dem Tag, mit dem alles anfing. Der frühere Tag findet hier seinen Abschluss, in diesem Augenblick, den er schon ein Vierteljahrhundert zuvor prophezeit hat. Die Zeit ist keine Linie, die durch eine Reihe von Augenblicken verläuft. Die Zeit ist ein Augenblick, an dem alle Linien zusammentreffen.
Seine Tochter geht neben ihm; sie ist achtzehn, genau zwei Jahre jünger als ihre Mutter damals. Die Botschaft dieses früheren Tages ist auch unterwegs zu ihr. Aber sie braucht noch Zeit, eine weitere Schleife, ehe sie sie versteht. Seine Tochter geht zwei Schritte vor ihm und tut so, als wisse sie nichts von der bleichen Gestalt in ihrem Schlepptau. Seine bloße Existenz ist ihr peinlich. Er trottet hinter ihr her, versucht verzweifelt Schritt zu halten, doch sie geht nur noch schneller. »Ruth«, ruft er, »du musst auf deinen alten Vater warten.« Aber sie kann nicht warten. Sie muss den Tag verleugnen, den er in sich trägt. Sie muss ihn verleugnen, wenn sie eine Chance haben will, ihrem künftigen Ich eine Botschaft zu senden oder sich an ihren Weg in die Zukunft zu erinnern, an ihre nächste Begegnung mit diesem Ort.
Er kann nicht begreifen, warum sie sich seiner so schämt. Er ist nicht der einzige Weiße. Sie sind zu Zehntausenden gekommen. Er schwimmt in der Menge, genau wie damals am Ende der Virginia Avenue, als er von Georgetown herübergekommen war, nur dass die Menge diesmal viel größer ist. Sie hat sich mehr als verdreifacht. Strom blickt nach Westen und sieht sich selbst als jungen Mann, einen ahnungslosen achtundzwanzigjährigen Einwanderer vor dem Sprung in den Strudel des eigenen Schicksals. Von wo war sie aufgetaucht, an jenem Tag, die Mutter seiner Ruth ? Er schaut nach Nordosten, sucht die verschwundenen Koordinaten der Frau, die mit dem Zug aus Philadelphia gekommen war. Kaum älter als dieses Mädchen, das vor ihm hergeht, führte sie sich damals schon die zukünftigen Bedrohungen und Missverständnisse vor Augen, das Leben, das das Schicksal für sie bereit hielt. »Unmöglich«, sagte sie immer wieder. Sie wusste es damals schon. Unmöglich.
Die Masse drängt weiter, genau wie beim ersten Mal. Er sollte nicht so denken: beim ersten Mal. Strom steht am Straßenrand, und die Menge zieht an ihm vorüber. Dann eine Abkürzung durch den verborgenen Radius der Zeit, und dieselbe Menge marschiert noch einmal vorbei. Es wird wieder so einen Marsch geben, einen Marsch, der dieses Jetzt in ein Damals verwandelt. Die Masse wird weiterdrängen, flussabwärts, und dann wird er wieder in sie eintauchen.
Sie singen: »We shall not be moved.« Er kennt die Melodie, aber den Text kennt er nicht. Doch sobald er ihn
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