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Der Klang der Zeit

Der Klang der Zeit

Titel: Der Klang der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Powers
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hört, kommt er ihm bekannt vor. Die Worte sind uralt, älter als alle Melodien. Just like a tree that's standing by the water. We. We shall not. We shall not be moved. Wir werden nicht weichen, wir halten Stand wie ein Baum, der am Wasser steht.
    Strom begreift: Rhythmus, das ist eine geschlossene zeitartige Schleife. Der Refrain verhallt und erklingt aufs Neue. Er kreist über den Köpfen der Demonstranten und hebt wieder an, im Kanon, jedes Mal gleich, und doch immer anders und einzigartig. Wie ein Baum. Ein Baum am Wasser. Er beschleunigt seine Schritte, geht schneller als das Lied. Er arbeitete sich weiter vor, bis er seine Tochter eingeholt hat. Sie hat das gleiche Profil wir ihre Mutter, nur noch ausgeprägter: der gleiche Bronzeton in einem strahlenderen Licht. Er betrachtet das Mädchen, und der Schock der Erinnerung trifft ihn mit Wucht. Jede Erinnerung eine umgekehrte Prophezeiung. Seine Ruth bewegt die Lippen und singt ihre eigene innere Melodie. Die Zeit steht still, wir sind im Fluss.
    Jetzt endlich sieht er es, nach einem Vierteljahrhundert: Deswegen hat die Frau an jenem Tag neben ihm gestanden und leise gesungen. Deswe-gen hat er sich zu ihr hinübergebeugt, um die Töne zu hören, die von diesen Lippen kamen. »Sind Sie Sängerin?«, hat er gefragt. Und sie hat geantwortet »Noch nicht«. Hat die Lippen zum Gesang einer anderen bewegt. Deswegen hat er mit ihr gesprochen, als es eigentlich unmöglich war, dass sie je ein Wort miteinander wechseln würden. Das hat sie dazu gebracht, ein gemeinsames Leben zu versuchen. Das bringt dieses Mädchen, ihr Fleisch und Blut, das jetzt an seiner Seite geht und so tut, als wäre es nicht so, dazu die Lippen zu bewegen und lautlos zu singen.
    Schon seit zwei Jahren hat sie nichts mehr mit ihm gemeinsam gesungen. Seit ihre Brüder nicht mehr bei ihnen wohnen, verweigert sie ihm die Duette. Sie, von allen diejenige, die am schnellsten lernte, das Mädchen, das Noten lesen konnte, bevor es Worte lesen konnte. Es hatte eine Zeit gegeben, da hatten ihre Mutter und er dieses Mädchen nicht zu Bett bringen können, solange irgendwo nördlich der 52. Straße noch eine Stimme sang. Heute singt sie, wenn überhaupt noch, anderswo, mit Freunden, die ihr andere Lieder beibringen, Lieder, die ihr Vater nicht kennt.
    Ruth war ihr Friedensbaby, zur Welt gekommen drei Monate nach Ende des großen Kriegs. Von Anfang an war sie die Art von Mensch, die überzeugt davon war, dass alles, was ihr begegnete, ihrer Liebe wert war. Sie liebte den Postboten von ganzem Herzen für das, was er ihr Tag für Tag schenkte. Als sie vier wurde, wollte sie ihn zur Geburtstagsparty einladen und weinte, bis sie versprachen, ihn zu fragen. Sie liebte Mrs. Washingtons Terrier, wie sie vielleicht einen Engel Gottes geliebt hätte. Sie sang Wildfremden auf der Straße etwas vor. Sie dachte, das sei überall so.
    Als sie acht war, nannte ein älterer Junge im Park sie einen Nigger. Sie lief zu ihrer Mutter, die auf einer Bank saß, und fragte, was das sei. »Ach, Liebling!«, antwortete Delia. »Der Junge, der ist nicht ganz richtig im Kopf.«
    Sie lief zurück zu dem Jungen. »Wieso bist du nicht richtig im Kopf?«
    »Nigger«, knurrte der Junge, »Affenmädchen.«
    Ruth, das Friedensbaby, das Kind der Sicherheit, schimpfte ihn lachend aus. »Ich bin kein Affenmädchen. Das hier ist ein Affenmädchen.« Und sie improvisierte einen Schimpansentanz für ihn, etwas aus ihrem ganz persönlichen Karneval der Tiere, schürzte die Lippen und machte ein glückliches Äffchen nach. Der Junge brach in ein ängstliches Lachen aus, hätte am liebsten nachgegeben, am liebsten mitgemacht, doch dann kam seine eigene Mutter und zerrte ihn fort.
    »Ist Joey ein Nigger?«, fragte Ruth auf dem Nachhauseweg. »Und Jonah?« In Gedanken hatte sie drei Kategorien gebildet. Und ihre war die kleinste und gefährlichste.
    »Kein Mensch ist ein Nigger«, antwortete Delia und nahm diesem Mädchen voller Liebe auch noch den letzten Schutz.
    Wenn ihre Eltern nicht hinsahen, freundete Ruth sich mit anderen an. Sie fand sie in der gemischtrassigen Schule, in die David und Delia sie schickten und sich damit eingestanden, dass sie ihren Jungs mit der Erziehung zu Hause keinen Gefallen getan hatten. Schon vor dem Tod ihrer Mutter brachte Ruth sie mit nach Hause, Freunde in allen Schattierungen. Manche kamen sogar wieder, nach dem Schock des ersten Besuches. Und von diesen Freunden lernte sie all die Melodien, die ihre Eltern ihr nicht

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