Der Klang der Zeit
beigebracht hatten, Melodien, die dazu führten, dass sie eines Abends ins Arbeitszimmer ihres Vaters kam und fragte: »Was bin ich?«
»Du bist mein kleines Mädchen«, antwortete er.
»Nein, Pa. Was bin ich?«
»Du bist ein kluges Mädchen, und alles, was du machst, machst du gut.«
»Nein, ich meine, wenn du weiß bist und Mama ist schwarz ...«
Und auch die Antwort, die er ihr daraufgab, war falsch. »Du bist ein Glückskind. Du bist weiß und schwarz.« Falsch wie so vieles.
Ruth sah ihn nur an, fast schon zornig vor Scham. »Das hat Mama auch gesagt.« Als werde sie von jetzt an keinem von beiden mehr trauen können.
Ihre Kinder sollten die Ersten sein, denen all dies nichts mehr anhaben konnte, die Ersten, die unbeschwert in eine Zukunft aufbrachen, die diesen uralten versteinerten Hass überwunden hatte. Aber ihre Kinder sind nicht frei. Die Signale aus der Vergangenheit sind viel zu stark. Strom und seine Frau haben sich verrechnet; mit ihrem allzu großen Optimismus waren sie ihrer Zeit um Jahrzehnte voraus. In jeder möglichen Zukunft, die die Lippen seiner Delia an jenem Tag besangen, stirbt sie zu früh und lässt ihre Tochter in einer Welt zurück, in der sie nur immer wieder hört, wie falsch ihre Musik war. Aber in einem Punkt haben sie Recht, diesen Glauben hat Strom nach wie vor nicht verloren: Sie kennen den Schlussakkord. Sie wissen, eines Tages wird die Welt hören, wie die Kadenz klingen muss. Wie ein Baum, der am Wasser steht. Die Lippen seiner Tochter bewegen sich lautlos. Zweihundert Schritt und vierundzwanzig Jahre entfernt, da wo seine Ruth es nicht hören kann, antworten die Lippen ihrer Mutter ebenso lautlos.
Die Menge trägt sie weiter. Ruth und er schwimmen in diesem Fluss aus lebendigen Leibern, der vor dem Lincoln Memorial verebbt. Alles erschreckend gleich: der gleiche Tag, die gleiche Statue, die gleiche erwartungsvolle Hoffnung in der Luft, die gleiche brutale Wahrheit direkt neben der Mall. Mehr Plakate, mehr Spruchbänder, mehr Proteste. Die Menschen haben jetzt mehr Worte für das, was sie nicht haben. Der Klang von Abertausend Stimmen bläht sich wie ein Segel, ein gespenstischer Widerhall, das Lied eines Kontinents, der noch nicht existierte, als er das letzte Mal hier war. Aber es ist der gleiche Menschenteppich, und wieder reicht er bis zum Horizont. Strom schätzt ab, wo er und seine Tochter stehen. Er überlegt, wo er und seine Frau waren, eine Positions-bestimmung wie auf hoher See.
Die Begeisterung der Massen überwältigt ihn. Ihm wird schwarz vor Augen, und seine Knie werden weich, ein Mann, der in die Jahre kommt, geschwächt von Hitze und Aufregung. Er taumelt und klammert sich an seine Tochter. Sie stützt ihn, besorgt und beschämt zugleich. Er zeigt mit dem Finger auf den Boden. »Hier waren wir. Mutter und ich.«
Sie kennt die Legende: Wie David Strom und Delia Daley sich kennen lernten, der Anfang ihrer eigenen Geschichte. Sie bittet ihn zu schweigen, lächelt betreten in die Runde. Keiner kümmert sich um sie. Eine halbe Million Augen sind auf die Rednertribüne gerichtet, eine Viertelmeile entfernt.
»Hier«, wiederholt er. »Genau hier.« Sie starrt auf den Boden. Seine Gewissheit erschüttert sie.
Für kurze Zeit herrscht hektisches Durcheinander auf dem Podium, dann verstummt der Gesang. Erst in diesem Augenblick wird ihnen klar, wie viele Melodien vorher gleichzeitig zu hören waren. Das Grum–meln aus der Lautsprecheranlage braucht eine volle Sekunde, bis es bei ihnen ankommt. Die Menge beruhigt sich; sie verschmilzt zu einer gewaltigen Freiluftgemeinde, so groß wie eine ganze Stadt. Nacheinander treten die Redner ans Mikrofon, jeder in einer anderen Schattierung, und jeder sagt dieser unbeschreiblichen Menge, wohin der Weg führt. Der Erste rät zu Kompromissen, der Zweite schleudert messerscharfe Fakten. Die riesige Gemeinde feuert ihn an: »Ja, sag es schon, raus damit!« Kameras und Mikrofone halten alles fest. Sogar ABC unterbricht die üblichen Seifen-opern und erlaubt der Nation einen ersten unverstellten Blick auf sich selbst.
Während der Reden wirkt Ruth manchmal zusammengesunken, dann steht sie wieder kerzengerade. Strom müht sich um eine Deutung: Wie es scheint, reagiert ihr Körper auf veränderte Druckverhältnisse. Sie zuckt nervös, als ein paar weiße Prediger versuchen, auf den
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