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Der Klang der Zeit

Der Klang der Zeit

Titel: Der Klang der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Powers
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fahrenden Zug aufzuspringen. Sie erwacht zum Leben, als der nur fünf Jahre als sie ältere John Lewis, der Sprecher der Studentenvereinigung für den gewaltfreien Widerstand, seine Anschuldigungen über die spiegelnde Wasserfläche schleudert. Er redet von einem Leben in ständiger Angst, einem Polizeistaat, und Ruth applaudiert. Er fragt: »Was macht die Regierung?«, und sie stimmt ein in den durchdringenden Antwortchor: »Nichts!« Er spricht von schmutzigen Kompromissen, vom Bösen und der einzig möglichen Antwort darauf: Revolution. Die Meile von Menschen trägt ihn, und Stroms Tochter teilt ihre jubelnde Begeisterung.
    Erneut packt Strom die Angst vor dem Ersticken. Wenn diese Menge außer Kontrolle gerät, ist er tot. So tot wie seine Eltern und seine Schwester, ermordet, weil sie auf der falschen Seite standen. So tot wie seine Frau, die gestorben ist, weil sie mit ihm leben wollte. So tot wie er sein wird, wenn das Signal aus der Vergangenheit sich schließlich an ihn erinnert.
    Die Sonne brennt gnadenlos, und die Reden ziehen sich hin. Jemand      – das muss Randolph sein – stellt die Frauen der Bewegung vor. Eine ältere Frau erhebt sich auf der Tribüne, um zu singen, und der Anblick steigt Strom so sehr zu Kopf, dass er fast den Boden unter den Füßen verliert. Er starrt sie unverwandt an, macht sich Vorwürfe, dass er die Halluzination für echt hält. Die Ähnlichkeit ist da, aber nur gerade so sehr, dass sie einen leichtgläubigen alten Mann narren kann. Die Unterschiede überwiegen. Vor allem das Alter: Diese Frau ist eine Generation älter als die, mit der er sie verwechselt.
    Dann überrollt ihn die Vergangenheit, ein Schlag ins Gesicht, wie das Straßenpflaster, das einem Fallenden entgegenstürzt. »Meine Güte. Sie ist es wirklich.«
    Seine Tochter zuckt zusammen beim Klang seiner Stimme. »Wer? Wovon redest du?«
    »Da. Die Frau da vorne. Das ist sie.« Der Hut ist größer, das Kleid bunter, der Körper vierundzwanzig Jahre schwerer. Aber der Klang ist unverändert, tief drinnen.
    »Wer, Pa?«
    »Die Frau, die deine Mutter und mich verheiratet hat.«
    Ruth lacht gequält, und sie lauschen schweigend der Musik. Das Mädchen hört nur eine alte Frau, die ihre beste Zeit längst hinter sich hat; mit brüchiger Stimme singt sie »He's Got the Whole World in His Hands«. Eine einfältige Melodie mit einem noch einfältigeren Text. Vor ihrem inneren Auge sieht sie die gleichen Bilder wie damals in der dritten Klasse, als sie ihr dieses Lied beibrachten: Hände so groß wie das Sonnensystem halten den Erdball wie eine besonders schöne Glasmurmel. Welche Farbe haben diese Hände? Wenn er den Planenten je in seinen Händen gehalten hat, dann ist ihm ein Großteil davon schon vor langer Zeit aus den unbeholfenen Fingern geglitten. The Wind and the Rain. The Moon and Stars. You and me, sister. Seit acht Jahren, seit dem Augenblick, als sie im Angesicht des Todes versuchte, sich aus dem Griff des Feuerwehrmanns zu befreien, weiß Ruth etwas, was diese alte Frau noch immer nicht wahrhaben will.
    Stroms Gedanken kreisen um ganz andere Lieder – »O mio Fernando«. »Ave Maria«. »America«. Eine Stimme, wie man sie nur einmal alle hundert Jahre zu hören bekommt – das hat Toscanini über sie gesagt, damals in Wien, in einem anderen Universum, bevor diese marode Metropole unterging. Und er hatte Recht. Denn seit Strom die Stimme gehört hat, sind mindestens hundert Jahre vergangen. Und noch länger ist es her, dass er jemanden hatte, mit dem er ihr gemeinsam lauschen konnte.
    Der Augenblick verstreicht; jeder in seine Ewigkeit gebannt, warten Vater und Tochter auf das Ende des Lieds. Ruth blickt zu ihrem Vater hinüber, ihr Gesicht angespannt von dem Versuch, eine Brücke zur Vergangenheit zu schlagen. Das ist die Frau, die legendäre Gestalt, von der sie so viel gehört hat. Strom spürt ihre Enttäuschung. Er verharrt reglos in dieser Coda zum vor der Zeit verklungenen Lied seiner Frau. Er hätte nicht so lange leben, diese Stimme nie wieder hören dürfen, nicht ohne seine Delia.
    Weitere Sänger folgen, und ihre Lieder handeln von anderen, härteren Erfahrungen. Mahalia Jackson singt von Demütigung und Verachtung: Ihr stimmgewaltiges »I've Been 'Buked« überrollt die Meile von Men-schen und teilt die spiegelglatte Wasserfläche wie das Rote Meer. Dann kommen weitere Reden. Und danach noch mehr. Der Tag wird nie enden und auch nie wiederkehren. Die Menge wird unruhig, wartet auf die

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