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Der Klang der Zeit

Der Klang der Zeit

Titel: Der Klang der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Powers
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Einlösung des Versprechens. Zu viele Reden, und Ruth fallen die Augen zu. Im Traum begegnet sie ihrer Mutter im Gewimmel eines Bahnhofs. Menschen rempeln sie an, drängen sich zwischen sie. Ruths Kinder sind irgendwo in der überfüllten Bahnhofshalle verschwunden. Ihre Mutter ist empört: Wie kannst du die Kinder aus den Augen lassen! Aber Delia singt ihren Tadel in den höchsten Tönen und mit einem gespenstischen Akzent.
    Dann wird aus Gesang wieder Sprache, der Akzent klingt plötzlich deutsch. Jemand rüttelt sie, und dieser Jemand ist ihr Vater. »Wach auf. Das musst du hören. Ein historischer Augenblick.« Sie sieht ihn wütend an, weil er ihr schon wieder die Mutter entrissen hat. Dann kommt sie allmählich zu sich. Sie hört einen mächtigen Bariton, eine bekannte Stimme, aber so hat sie sie noch nie gehört. Wir sind auch an diesen geweihten Ort gekommen, um Amerika an die drängenden Probleme der Gegen-wart zu erinnern.
    Die Gegenwart: der Grund, warum ihr Vater sie geweckt hat. Aber ein Gedanke lässt sie nicht los, zwischen dem Donnergrollen des Baritons: Ihr Vater konnte nicht wissen, was kommen würde; die Worte wurden erst ausgesprochen, als er sie schon wachgerüttelt hatte. Dann verdrängt sie den Gedanken, überlässt die Antwort auf die Frage einem späteren Ich. Etwas geht vor in der Menge, eine Art Alchemie, ausgelöst durch die schiere Kraft dieser Stimme. Die Worte hallen dreifach wider, ein versetztes Echo. Ihr Vater hat Recht: Es ist ein historischer Augenblick. Schon jetzt verschmelzen diese Worte untrennbar mit all den Malen, die sie sie in den kommenden Jahren noch hören wird.
    Der Prediger beginnt zu improvisieren, verbindet Arnos und Jesaja mit Schnipseln aus den Psalmen, vertraute Worte aus alten Kirchenliedern, die Ruth einst mit ihrer Familie zusammen gesungen hat. Die ungerecht leiden, sollen erlöst werden. Nur zu gern würde sie das glauben. Eines Tages wird diese Nation aufstehen und tatsächlich den Leitsätzen ihres Credos folgen. Ich habe einen Traum, dass meine vier Kinder eines Tages in einer Nation leben werden ... Sie sieht sich selbst, mit eigenen Kindern, aber immer noch ohne Nation.
    Alle Täler erhöht. Alle Berge und Hügel erniedrigt. Gott stehe ihr bei. Sie kann nicht anders: Sie hört Händel. Daran sind ihre Eltern schuld; ein Geburtsfehler. Sie könnte den ganzen Text aus dem Gedächtnis singen. Und was uneben ist, soll gerade ... und die Herrlichkeit des Herrn soll offenbart werden.
    In diesem Glauben werden wir die Dissonanzen und Misstöne unserer Nation in eine wunderbare Symphonie verwandeln. Sie hebt den Blick und sieht sich um – Brauntöne, so weit das Auge reicht. Eine unüberhörbare Melodie, ohne Zweifel, aber noch lange keine Symphonie. Ruth wendet sich ab und betrachtet den Mann an ihrer Seite. Die weiße Haut ihres Vaters erscheint ihr krank, seltsam fremd. Das schüttere graue Haar, vom Wind zerzaust, hat nichts mit ihr zu tun. Die Worte dieser Rede rollen ihm über die Wangen. Sie hat ihren Vater noch nie weinen sehen, nicht einmal bei der Totenfeier für ihre Mutter. Sie erinnert sich nur an sein wirres Lächeln, die Theorie von der zeitlosen Zeit. Erst diese Worte bringen ihn zum Weinen, diese abstrakte Hoffnung, so verzweifelt und so offensichtlich, um so vieles zu spät. Und sie hasst ihn dafür, dass er so lange gewartet hat. Dass er sich weigert, sie anzusehen.
    Strom spürt den Blick seiner Tochter, aber er will sich nicht zu ihr umdrehen. Solange er ihr nicht geradewegs ins Gesicht sieht, ist seine Delia immer noch mehr als halb an seiner Seite, bei dem gemeinsamen Konzert von damals. Als der Prediger die Worte zu sprechen beginnt, die Worte, die die Jahrhundertstimme an jenem ersten Tag sang, wartet Strom schon darauf. Er weiß schon vorher, wann sie kommen müssen, und als es soweit ist, kommen sie, weil er es so will.
    Die Melodie kennt er seit einer Ewigkeit. Die Hymne des britischen Empire. Beethoven schrieb einen Satz Variationen darüber. Ein halbes Dutzend europäische Länder haben ihre eigene Fahnen schwingende Version, sogar sein gefallenes Deutschland. Und doch hat er den amerikanischen Text nie zuvor gehört. Damals hat er die Worte nicht ver-standen, aber jetzt versteht er sie, ein Vierteljahrhundert später an diesem Ort. Land where my fathers died – Land, wo meine Väter starben. Das Land gehört diesem Prediger eine Million mal mehr als Strom. Aber Strom wurde es im Hafen von New York ausgehändigt, mit weniger

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