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Der Klang der Zeit

Der Klang der Zeit

Titel: Der Klang der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Powers
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Umgebung des Denkmals bleibt. Denn hier hat der Junge seine Familie wieder gefunden, damals, noch vor dem Krieg, als Liebe zwischen ihm und seiner Frau noch unmöglich war.
    Und hier findet seine Tochter ihn, eine halbe Stunde später. Niemand auf der ganzen Mall ist leichter zu finden: Ein weißer, aufgescheuchter Mann, der im Gewimmel der schwarzen Leiber bald hierhin, bald dorthin hastet. Sie hätte ihn schon lange vorher gefunden, wäre sie sich nicht so sicher gewesen, dass selbst der große Wissenschaftler irgendwann auf das Naheliegende kommen würde. Sie kommt kopfschüttelnd zu ihm hin, hilflos, hoffnungslos.
    Er jubiliert, als er sie sieht. »Ich wusste doch, dass ich dich hier finde!« Er bebt am ganzen Leibe aus Furcht vor der Erklärung. »Wo warst du? Wem bist du begegnet ? Hast du mit jemandem gesprochen ?«
    Seine Not ist so groß, sie bringt es nicht fertig, ihn auszuschimpfen. »Liebe Güte, Pa. Ich habe im Bus gesessen und auf dich gewartet. Sie fahren noch ohne uns ab.«
    Sie zerrt ihn zurück, so schnell wie seine Beine können. Nur ein einziges Mal bleibt er noch stehen und wirft einen Blick zurück. Keine Offenbarung. Nichts zu sehen. Ein Mann auf Rollschuhen mit einer schlaffen roten Schärpe. Gruppen von Freiwilligen, die den Abfall zusammenkehren. Er spürt, wie das Signal aus der Vergangenheit schwächer wird, und dann ist es fort: endlich frei.

FRÜHJAHR   1940  –   WINTER   1941
     
    David Strom und Delia Daley heirateten am 9. April 1940 in Philadelphia. Während die zwei im armseligen Amtsgericht des Siebten Bezirkes die Ringe tauschten, marschierten die Nazis in Dänemark und Norwegen ein.
    Die Feier war klein, eine Verlegenheitslösung. Die Zwillinge trugen hellbraune Häkelwesten über ihren burgunderroten Kleidern. Charles hatte seinen guten Sonntagsanzug an. Michaels Arme und Beine ragten ein gutes Stück weit aus dem blauen Anzug heraus, der ihm an Weihnachten noch gut gepasst hatte, noch nicht einmal vier Monate zuvor. Dr. Daleys Smoking ließ den Bräutigam neben sich blass aussehen, auch wenn dieser noch nie im Leben nobler gekleidet gewesen war als in seinem grauen Zweireiher. Die Brautmutter trug das schimmernde grüne Seidenkleid, in dem sie auch begraben sein wollte. Die Braut kam in strahlendem Weiß.
    Was immer sich Nettie Ellen sonst zu dieser Hochzeit gedacht haben mochte, hatte sie doch nie daran gezweifelt, dass sie in ihrer eigenen Kirche stattfinden würde, im Bethel Covenant, wo sie und William geheiratet hatten. Wo sie mit ihren Kindern zum Gottesdienst gegangen war. Der Kirche, in der Delia das Singen gelernt hatte.
    »Die machen das nicht«, sagte Delia.
    »Reverend Frederick? Natürlich macht er das. Er hat dich doch getauft.«
    »Sicher, Mama. Aber er hat David nicht getauft.«
    Nettie Ellen überlegte. »Er könnte ihn doch erst taufen, und dann verheiratet er euch zwei.«
    »Meine Mutter will, dass du konvertierst.« In letzter Minute beichtete Delia es ihrem Verlobten, in dessen winziger Wohnung in Washington Heights im Dunkeln in seinen Armen. Sie hätte sich gern darüber lustig gemacht, aber es gelang ihr nicht. »Damit wir in ihrer Kirche heiraten können.«
    Es dauerte lange, bis seine Antwort kam, und es war eine Antwort, die alle solchen Pläne vereitelte. »Einmal, da wäre ich beinahe konvertiert. Als ich noch ein Junge war. Mein Vater lehrte Mathematik an unserer Schule. Meine Mutter nähte Kleider, zu Hause. Vor dem Weltkrieg konnten sie froh sein, wenn sie überhaupt arbeiten durften. Dann kam Weimar, und eine kleine Weile lang war das Leben besser für die Juden. Rathenau wurde Außenminister. Die Israeliten brachen zu neuen Küsten auf.«
    »Ufern.«
    »Ufern. Dann wurden die Zeiten wieder schlechter. Es hieß, die Juden hätten den Krieg für Deutschland verloren. Hätten das Land verkauft. Sagt man so? Denn wie sonst hätte Deutschland so einen Krieg verlieren können? Selbst mein Vater war jetzt antijüdisch. Er wollte von dem alten Leben nichts mehr hören. Alles war Vernunft für ihn, mathematische Formeln. Er fühlte sich als Deutscher, seine Familie war seit zweihundert Jahren dort. Und schon seit langem hatten sie sich an die Wissenschaft gehalten und nicht an die Synagoge. Und dann, ich war gerade elf geworden, haben die Judenhasser Rathenaus Wagen von der Straße ge-drängt und ihn mit Kugeln durchlöchert. Dann haben sie ihn noch in die Luft gejagt, nur zur Sicherheit.«
    Delia fasste ihn fester an den Händen. Er

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