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Der Klang der Zeit

Der Klang der Zeit

Titel: Der Klang der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Powers
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Fragen als hier.
    Let freedom ring. Der Ruf der Freiheit soll erklingen von den lieblichen Hügeln in New Hampshire. Von den mächtigen Bergrücken in New York, den Höhenzügen der Alleghenies, den schneebedeckten Rocky Mountains, den Gipfeln im fernen Kalifornien. Vom Stone Mountain und Lookout Mountain bis zum kleinsten Maulwurfshügel in Missis-sippi. From every mountainside, let freedom ring.
    Die Worte entzünden einen Funken, wie der erste Schöpfungstag. Jetzt könnten sie es gemeinsam schaffen: Diese Menge könnte über den grünen Rasen strömen, eine unaufhaltsame Armee, und mit der Kraft ihrer Seelen ihr Kapitol erobern, ihren Obersten Gerichtshof, ihr Weißes Haus. Aber sie sind zu glücklich zum Kämpfen, zu sehr in Hochstim-mung.
    Free at last, damit endet die Rede. Endlich frei. Und dann ist auch die Menschenmenge wieder frei. Frei zur Rückkehr in die verfallenden Städte, zu dem Leben im Käfig. Die Versammlung löst sich auf, genau wie damals. Strom wagt nicht, sich von der Stelle zu bewegen, denn er weiß, die Grenze der Offenbarung ist noch ganz nah, eine unsichtbare Linie, die nur daraufwartet, dass er sie überquert. Die Masse strömt um sie herum, verärgert über die zwei Stücke Treibgut, die ihren Fluss hemmen. Ruth ist wütend auf den Mann. Seine Tagträumereien machen sie rasend. Sie sieht, wie ihm das Offensichtliche entgeht. Rings um sie her bröckelt die schwarz-jüdische Allianz. Sie wird nicht einmal die Rückfahrt im Bus überdauern.
    Ruth setzt sich allein in Bewegung. Sie ist schon zu lange allein. Ihre Brüder haben keine Zeit für die Gegenwart. Ihr Vater ist gefangen in der Vergangenheit. Sie macht sich auf den Weg, weiß genau wohin sie will; ihre Gedanken kreisen um ein Wort des Redners mit der Baritonstimme: »dieser wunderbare neue Kampfgeist.« Es scheint ihr der einzig mög-liche Weg, der einzige, auf dem sie nicht für immer allein sein wird. Sie geht zurück zu der Stelle, wo die Busse aus Columbia sie abgesetzt haben. Den Weg dorthin wird sogar ihr Vater finden.
    David Strom steht da, aufgelöst, bevölkert jeden Fleck in der Weite dieses öffentlichen Raums. Das ist die Stelle, wo seine Frau steht, verlegen, weil sie laut mitgesungen hat. Hier steht sie und fragt, ob er jemals die legendäre Farrar singen gehört hat. Hier ist die Stelle, wo sie um Ver-zeihung bittet und wo sie sich verabschieden, für immer. Hier finden sie den verirrten Jungen. Dort, dort oben, erklärt sie ihm, warum ein Wiedersehen unmöglich ist. Was für eine Täuschung, der Gedanke, dass eine Geschichte zu Ende sein könnte.
    Als er aufblickt und seine Tochter ansehen will, ist sie fort. Mit einem Male ist ihm kalt. Dass sie fort war, war zu erwarten gewesen. Die Situation fasziniert ihn, eine krankhafte Begeisterung, und er beginnt zu laufen, und der Zweiundfünfzigjährige sprintet einige Schritte hierhin, dann wieder einige in eine ganz andere Richtung. Für Panik sorgt eher die Wiederholung als jede Furcht vor einer echten Gefahr. Hier unter den Kundgebungsteilnehmern ist sie sicherer als auf jeder New Yorker Straße auf dem Nachhauseweg von der Schule. Sie ist achtzehn Jahre alt, an jeder Ecke der Hauptstadt steht ein Polizist. Und trotzdem weiß er, dass die Bedrohung unendlich ist, so weit wie die Zeit. Sie ist fort: nirgendwo und überall. Nun läuft er geradeaus, an der Vorderseite des Denkmals entlang, hastet, ruft, getrieben von seiner Vorahnung.
    Er läuft zu der Stelle, wo sie den verirrten Jungen fanden. Sein Kind ist nicht da. Er geht den Weg noch einmal – nicht den Weg, den er und Ruth gekommen sind, sondern den Weg von damals, den er und Delia und der Junge gingen. Er hält auf die riesige Statue zu. Er blickt hinauf zu Lincoln, der Gestalt, die er damals nicht erkannte und die, wie der Junge ihm erklärte, niemals die Sklaven befreite. Jeder Sprecher der heutigen Versammlung hat dem Jungen Recht gegeben. Strom arbeitet sich so weit an den Sockel des Denkmals heran, wie es die dicht gepackte Menschenmenge zulässt. Sie muss doch hier sein. Aber sie ist nicht zu sehen. Sie war hier und ist schon wieder fort. Schon in der nächsten Minute wird sie wieder auftauchen. In zehn Minuten. Wie können sich zwei Wege in der Zeit jemals treffen? Das Feld ist zu weit für eine so winzige Spur.
    Er überschlägt in Gedanken die Wahrscheinlichkeit: Zwei Beinpaare, willkürlich mit verschiedener Startzeit in Gang gesetzt. Die Chance, sie zu finden, ist am größten, wenn er in der nächsten

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