Der Klang der Zeit
erwiderte den Griff: Alles was er im Leben hatte, außer der Welt der Gedanken.
»Danach ist den meisten Juden der Weg versperrt, selbst nicht jüdischen Juden wie meinem Vater. Nur in Berufen, die keinen interessieren, die keinen Wert haben, können sie noch etwas werden. Theoretischer Physik zum Beispiel! Und selbst hier baut man Hindernisse auf. Mein Vater wollte, dass wir Chancen für die Zukunft hatten. Meine Schwester wurde Büroangestellte. Er hoffte, dass ich mein Abitur machte. Und selbst so ein Traum forderte schon das Schicksal heraus. Ich war zwei Jahre früher mit dem Gymnasium fertig, deswegen gehe ich noch heute in die Schule. Und Max Strom, der dem Judentum für immer abge-schworen hatte, und seine Rebecca, sie sind ...«
Er versank im Dunkel, suchte Zuflucht in einem neutralen Land. Delia folgte ihm, kannte den Weg aus langer Tradition.
»So ist es immer für uns gewesen. Merkwürdig schon. Als ich noch jung war, da hat mein Vater gesagt: Geh hin, konvertiere. Tu etwas für deine Karriere. Ich habe euer Neues Testament gelesen. Ich fand viel Wahres darin. ›Häufe keine Schätze an in diesem Leben, sondern häufe sie an für das Kommendem Diese Worte haben mich tiefbewegt. Aber zurück blieb ein Paradox.«
Sie schüttelte den Kopf, an seine Brust gelehnt. »Das verstehe ich nicht.«
»Wenn ich vorankommen will, muss ich Christ werden. Aber wenn ich das Christentum benutze um voranzukommen, verliere ich meine Seele!«
Sie lachte ein wenig, mit ihm, gegen ihn. »Wo viel Licht ist, ist auch viel Schatten.«
»Licht? Sagt man so.« Er richtete sich auf und kritzelte den Satz in ein eselsohriges Notizheft, zusammen mit einer Zeichnung. Damit er es eines Tages seinem Vater zeigen konnte, jenseits des Lichts.
Sie sah ihm zu, fasziniert. »Die Notizbuchindustrie wird einen ungeahnten Aufschwung erleben, wenn wir erst einmal verheiratet sind, Mr. Strom.«
»Bist du denn wirklich Christin?«, fragte er. »Glaubst du an die Bibel?«
Niemand hatte sie das je so direkt gefragt. Und auf die Idee sich selbst zu fragen war sie nie gekommen. »Ich glaube daran ... dass es irgendwo etwas Größeres und Besseres als uns gibt.«
»Ja!« Er strahlt übers ganze Gesicht. »Ja. Daran glaube ich auch.«
»Aber du nennst es nicht Gott.«
Seine Blicke beteten sie an. »Es ist größer als der Name, den ich dafür habe. Besser.«
Sie strich ihm mit dem Handrücken über die Stirn, zog mit dem Finger die Lider hoch und blickte ihm in die Augen. »Ich dachte, für Leute wie dich ist die Mathematik alles.«
»Leute wie mich? Leute wie mich! Sicher, Mathematik ist alles. Aber was ist Mathematik?«
Später, als sie aufbrach, um die Nacht bei ihrer Cousine an der Ecke 136. Straße und Lenox Avenue zu verbringen, fragte er: »Wie werden wir unsere Kinder erziehen?«
Nichts würde je wieder selbstverständlich sein. Von jetzt an würde alles langsam, zaghaft, experimentell vor sich gehen, bestenfalls eine Stunde würden sie in ihren Gedanken dem Geschehen voraus sein. Der Vogel und der Fisch konnten sich verlieben. Aber an ihrem Nest würden sie für alle Zeiten bauen. Jede Antwort schien ein Todesurteil. Schließlich sagte sie: »Wir können sie so aufziehen, dass sie später eine Wahl haben.«
Er nickte. »Ich kann konvertieren.«
»Warum?« Sie rückte seine Brille zurecht und schob die dünne Stirnlocke nach oben. »Nur damit wir in einer Kirche heiraten können? Das wäre zu viel Schatten für das bisschen Licht.«
»Nicht um der Kirche willen. Für deine Mutter.«
Das schien ihr frommer als alle Evangelien. Du bist christlicher als die Christen, hätte sie am liebsten gesagt. Aber damals wäre das Kompliment ihm wie ein Fluch vorgekommen. »Nein. Wir heiraten einfach nur beim Friedensrichter. Erst einmal bringen wir das Irdische in Ordnung. Um alles andere können wir uns später kümmern.«
Die Ehe wurde in einer Amtsstube geschlossen, als sein Europa in Flammen stand. Er war sich nicht sicher, wie viele Stroms gekommen wären, selbst wenn er sie hätte finden können. Jahre zuvor, als er noch auf der Universität war, hatte seine Schwester Hannah einen bulgarischen Intellektuellen geheiratet. Sie hatten ihre Mutter mit Gewalt zu der Hochzeit schleppen müssen. Ein Atheist, ein Sozialist, ein Slawe – was ist denn das für ein Mann! Wo wollen sie wohnen ? Was wollen sie sein ?
Dafür waren die Daleys vollzählig erschienen, bis hin zu Delias Cousins und Cousinen. Es herrschte eine solche – wenn auch
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