Der Klang der Zeit
Brahms. Die First Lady, die ehemalige Sozialarbeiterin, schäumt vor Wut. Sie bewundert Miss Anderson schon seit langem und hat sie schon drei Jahre zuvor zu einer Privatvorstellung eingeladen. Jetzt verwehrt man der Frau, die im Weißen Haus gesungen hat, den Auftritt auf einer öffentlichen Bühne. Eleanors ad hoc gegründetes Protestkomitee sucht nach einem anderen Veranstaltungsort, doch die Schulbehörde verwei-gert die Genehmigung für ein Konzert in der Central High School. Die Central High School steht nicht zur Verfügung für diese Sängerin, die von Variety zur drittgrößten Künstlerin des Jahres gekürt worden ist. »Wenn wir einen solchen Präzedenzfall schaffen, verliert die Behörde die Achtung und das Vertrauen der Bürger und untergräbt ihre eigene Autorität.«
Walter White, der Präsident der NAACP, einer Organisation, die sich für die Belange der Farbigen einsetzt, eilt ins Kapitol und unterbreitet die einzig mögliche Lösung, eine Lösung, die so unerhört ist, dass sie tatsächlich die drohende Katastrophe verhindern und ins Gute wenden kann. Harold Ickes, der Innenminister, stimmt sofort zu. Der Minister hat die ideale Bühne. Die Akustik ist schrecklich und die Bestuhlung ein Skandal. Aber das Fassungsvermögen! Miss Anderson wird unter freiem Himmel singen, zu Füßen des Großen Befreiers. Es gibt keine Zuflucht hier auf Erden.
Der Plan dringt an die Öffentlichkeit und löst eine Flut von Drohbriefen aus. Leute reißen in dem Park, in dem das Konzert stattfinden soll, die Kirschbäume aus und zimmern Kreuze daraus, die sie auf den Rasen des Weißen Hauses stellen. Aber jeder Mensch muss für sich beweisen, was er wert ist. Der texanische Zweig der Töchter bestellt telegraphisch zweihundert Karten. Aber Ickes und Eleanor haben noch einen Trumpf in der Tasche. Der Eintritt für dieses improvisierte Sonntagskonzert ist frei. Das ist ein Preis, den das Land versteht, ein Preis, der einen Besucheransturm garantiert, ein Ansturm, der die Töchter der amerikanischen Revolution erbleichen lässt. Selbst die, die nicht wissen, was meno und molto ist, die Aida nicht von Othello unterscheiden könnten, wollen an diesem Ostersonntag auf der Mall sein.
Zehntausende pilgern nach Washington, jeder aus seinen eigenen Gründen. Manche kommen des Nervenkitzels wegen. Andere hätten ein Vermögen dafür bezahlt, das Phänomen zu sehen, das Europa im Sturm erobert hatte. Musikliebhaber sind dabei, die die Stimme dieser Frau schon verehrten, lange bevor die Macht des Schicksals sich ihrer bemächtigte. Und viele kommen, weil sie einfach nur ein Gesicht wie das ihre dort oben auf den Marmorstufen sehen wollen, weil sie dabei sein wollen, wenn diese Frau dem Übelsten, was die weiße Welt ihr entgegenschleudern kann, die Stirn bietet und triumphiert.
Drüben in Philadelphia, in der Union Baptist Church an der Fitzwater und Martin Street, dem Gotteshaus, in dem Marian Anderson einst zum ersten Mal ihre Stimme erhoben hatte, ist dies die Stunde der Erlösung, die Stunde der Belohnung für eine Gemeinde, der es niemals um Anerkennung gegangen war. Im eigens eingerichteten Frühgottesdienst an diesem Morgen des Aufbruchs flicht der Pfarrer Miss Anderson in seine Osterpredigt ein. Er spricht von dem Lied eines Lebens, das sich unaufhaltsam emporschwingt und dem Grabe entsteigt, auch wenn das mächtige Reich es noch so gern tot und begraben sähe. Das weite Halbrund der Bankreihen geht begeistert mit und besiegelt jedes Wort mit einem vielstimmigen Amen. Der Kinderchor jubiliert, wie man es seit den Tagen von Klein Marian nicht mehr gehört hat, und der Klang steigt hinauf zu den geschnitzten Dachbalken.
Die Botschaft ist gut, und die Gemeinde erhebt sich wie einst der Tote im österlichen Grab. Im besten Sonntagsstaat drängen sich die Schäflein aufgeregt vor der Kirche und warten auf die Busse, schwelgen in Erinnerungen an die ersten Auftritte der angehenden Sängerin, an die Wohltätigkeitskonzerte, die Münzen, die man sammelte: Gesangstunden für Marian, damit unser Volk eine Stimme hat.
Die Busse füllen sich mit Gesang in allen Tonlagen, vielstimmige Brückenschläge zwischen der Wildnis und dem Lande Kanaan. Die Sänger schmettern leidenschaftlich ihre Choräle, lassen sich hinreißen vom Rhythmus der Gospels und versuchen sich beherzt an vierstimmigen Kirchenliedern. Sie singen einen bunten Strauß von Spirituals, darunter auch Marians Lieblingsstück »Trampin'«. »I'm trampin', I'm trampin',
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