Der Klang der Zeit
trying to make heaven my home.« Die Praktischeren, die nicht auf die himmlische Heimat warten wollen, singen »trying to make a heaven of my home« und wollen den Himmel schon hier auf Erden erschaffen. Aber dies eine Mal liegen die beiden Glaubensrichtungen allen irdischen Schismen zum Trotz ganz nah beieinander, zwei Stimmen in ein und demselben Lied.
Delia Daleys Adoptivgemeinde ist ohne sie unterwegs ins Gelobte Land. In ihrer einsamen Qual spürt sie den Augenblick, in dem sie aufbrechen, spürt, wie die Wasser sich teilen, und sie bleibt am Ufer zurück. Weil sie vom Frühdienst im Krankenhaus nicht fortkann, musste sie sogar schon auf den Sonnenaufgangsgottesdienst verzichten. Sie steht im Schwesternzimmer und bettelt um ein Almosen, eine Stunde nur, wenigstens eine halbe. Die rotgesichtige Feena Sundstrom zuckt mit keiner Wimper. »Jeder hätte gern am Ostersonntag frei, Miss Daley, auch unsere Patienten.«
Sie überlegt, ob sie trotzdem früher gehen soll, aber der schwedische Dragoner würde sie ohnehin am liebsten vor die Tür setzen, nur weil sie sie einmal schief angesehen hat. Ohne das Geld, das sie im Krankenhaus verdient, kann Delia das letzte Jahr ihrer Gesangausbildung in den Wind schreiben. Sie würde wieder ihren Vater bitten müssen, damit sie es wenigstens bis zur Abschlussprüfung schafft, und der würde es genießen. Seit vier Jahren muss sie sich jedes Semester von neuem den Spruch anhören. »Darf ich dich vielleicht an die ökonomischen Realitäten erinnern ? Du hast doch sicher schon von der Party gehört, die die Herren für uns veranstalten. Eine Party namens Wirtschaftskrise. Die Hälfte von uns ist arbeitslos. Damit haben sie auch noch den letzten Neger erledigt, der ihnen bisher durch die Lappen gegangen war. So sieht es aus. Und da denkst du, du kannst Sängerin werden! Schau dich doch mal um, was es hier zu singen gibt!«
Als sie ihrem Vater sagte, dass sie nicht mit der Baptistengemeinde nach Washington fahren könne, strahlte der Doktor beinahe. Als sie allerdings hinzufügte, dass sie auf eigene Kosten per Zug folgen werde, war er sofort wieder der übliche alttestamentarische Patriarch. »Und wie verträgt sich dieser Luxus mit deiner Finanzlage? Oder zauberst du jetzt mit der Kraft des Gesanges volle Kassen herbei ?«
Jemandem wie ihm zu sagen, dass ihr das ja auch gelingt, das kann sie sich sparen. Dass Miss Anderson mit ihrem Gesang mehr verdient als 99 Prozent von »unseren Leuten« und als die meisten Weißen dazu. Ihr Vater würde nur wiederholen, was er ihr endlos predigt, seit sie auf die Gesangschule geht: Im Vergleich zur Welt der klassischen Musik geht es unter Berufsboxern wie auf einem Kindergeburtstag zu. Ein Kampf bis aufs Messer. Nur die Skrupellosesten überleben.
Doch bisher hat Delia Daley überlebt – mit ihrer eigenen Art von Skrupellosigkeit. Skrupellos gegenüber sich selbst, ihrem Körper, den Stunden, die ein Tag hat. Ein Vierjahresmarathon rund um die Uhr, über jede Hürde, und sie wird weiterlaufen, so lange, bis sie am Ziel ist. Ihr Vater soll sehen, welche Kraft der Gesang hat.
Aber heute fühlt sie sich alles andere als kräftig, die Marathonläuferin droht zu stolpern. Die Frühschicht ist schlimmer als Mord, ein Urteil ohne Berufung. Die Mühseligen und Beladenen – die ja, wie Jesus sagt, stets unter uns sind, von denen es aber diesmal zu Ostern besonders viele zu geben scheint – liegen in ihrem eigenen Dreck und warten, dass sie kommt, um sie sauber zu machen. Zweimal braucht sie Hilfe, um Patienten aus dem Bett zu heben, damit sie die Bettwäsche wechseln kann. Dann lässt die schwedische Nightingale sie die Toiletten im Westflügel putzen, denn diese Frau weiß genau, was für ein Tag heute ist. Feena die Faschistin steht hinter ihr, während sie arbeitet, und lamentiert über die Faulheit der Farbigen. »Tja, so seid ihr nun mal. Als Letzte zum Dienst, als Erste nach Hause.«
Um das Maß voll zu machen, beschweren sich drei Patienten hintereinander, weil sie das Frühstück abräumen will, obwohl sie noch in ihrem Gummiomelette stochern. So ist Delia fast eine ganze unbezahlte Stunde zu spät mit der Arbeit fertig, die zehn Minuten, die Feena auf sie einredet, mitgezählt. Im Laufschritt geht es nach Hause, damit sie sich waschen und ein anständiges Kleid überziehen kann, und dann muss sie sich sputen, dass sie noch rechtzeitig zum Bahnhof kommt. Die Fahr-karte kostet so viel wie eine Woche Kantinenessen.
Zu Hause nimmt der
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