Der Klang der Zeit
alten Spiritual in dem kieksenden Tenor, dessen stolzer Besitzer er seit vergangenem Jahr ist. »Long gone. That train that's gonna save ya? Long gone.« Michael macht mit, steuert die Parodie einer Operndiva bei. Lucille bricht in Tränen aus, denn sie ist sicher, dass Delia, auch wenn sie das Gegenteil noch so sehr beteuert, umkommen wird, wenn sie allein nach Washington fährt. Lo–rene stimmt ein, denn immer ist sie diejenige, die zu Ende führt, was ihre Zwillingsschwester beginnt.
Der Doktor setzt seinen strengen Blick auf, der stets für häuslichen Frieden sorgt. »Wer ist denn diese Frau, dass du vom Ostermahl mit deiner Familie aufspringen musst und –«
»Daddy, du Heuchler.« Sie wischt sich den Mund mit der Serviette
und starrt ihn an, bis er den Blick senkt. Er weiß besser als jeder andere, wer diese Frau ist. Er weiß ganz genau, was dieses Mädchen aus Philadelphia aus eigener Kraft geleistet hat. Schließlich hat er es Delia Jahre zuvor selbst erzählt und hat ihr die Augen damit geöffnet: Diese Frau ist unsere Botschafterin. Unsere letzte, beste Hoffnung, mit der wir den Weißen zeigen werden, dass auch wir etwas bedeuten. Du willst auf die Musik-schule gehen ? Dann hast du hier deine erste Lehrerin, die beste, die du bekom-men kannst.
»Heuchler?« Die Gabel, die der Vater zum Munde führt, hält auf halbem Wege inne. Sie ist zu weit gegangen, hat zu sehr aufgetrumpft. Nun wird der Doktor sich erheben, die Rechtschaffenheit in Person, und wird ihr verbieten zu fahren. Aber sie blickt ihm fest ins Gesicht, die einzige Hoffnung. Und plötzlich heben sich die Mundwinkel zu einem Lächeln. »Kleines, von wem hast du solche Wörter denn erst gelernt? Hast du vergessen, wer sie dir beigebracht hat?«
Delia geht zu ihm hin ans Kopfende des Tisches und küsst ihn auf die schon recht kahle Stirn. Mit Schmollmund summt sie »Lift Every Voice and Sing«, die Hymne des schwarzen Amerikas, gerade so laut, dass er es hören kann. Sie umarmt ihre Mutter, die es mit mürrischer Miene geschehen lässt, und schon ist sie aus dem Haus, unterwegs zum Bahnhof zu einer neuen musikalischen Pilgerfahrt. Sie unternimmt solche Fahrten schon seit Jahren, seit dem Tag, an dem sie im Radio eine Übertragung hörte, die ihr Leben veränderte. Sie hat schon Ausflüge in die Colorado Street gemacht, wo Miss Anderson als junges Mädchen lebte, und zu ihrem zweiten Haus in der Martin Street. Ist durch die Flure der South Philly High spaziert und hat sich ausgemalt, wie die junge Marian dort zur Schule ging. Hat sich als Baptistin ausgegeben, zur Schande ihres ungläubigen Vaters und zum Entsetzen ihrer methodistischen Mutter, nur damit sie Woche für Woche in die Kirche ihres Idols zur Chorprobe gehen kann, zur Gemeinde der Frau, die ihr gezeigt hat, was sie mit ihrem Leben anfangen kann.
Die letzten zwei Jahre hat dies stattliche Gesicht, ein gerahmtes Illustriertenbild, Delia von ihrem Schreibtisch aus angesehen, eine stille Erinnerung daran, was sich mit Gesang erreichen lässt. Das hatte sie in dem tiefen Fluss der Lieder gehört, der fünf Jahre zuvor dem Lautsprecher ihres Radios entströmt war, und dann noch einmal im vergangenen Jahr, als der Sonnenstrahl von Miss Andersons leider so kurzem Konzert in Philadelphia sie beschienen hatte. Nach diesem Vorbild, eingebrannt in ihrem Gedächtnis, hatte sie ihre eigene Mezzostimme geformt. Heute will sie noch einmal die Trägerin dieser Stimme leibhaftig sehen. Marian
Anderson muss nicht einmal singen, damit dieser Ausflug in die Hauptstadt sich für sie lohnt. Es genügt schon, wenn sie einfach nur da ist.
Auf der Zugfahrt macht Delia Daley ihre stillen Stimmübungen, formt in Gedanken die Tonfolgen. »Der Ton entsteht nicht in der Kehle«, ermahnt Lugati sie Woche für Woche. »Der Ton entsteht in unseren Gedanken.« Sie lässt die Noten von Schuberts »Ave Maria« Revue passieren, den Anderson-Standard, der auch für heute auf dem Programm steht. Es heißt, der Erzbischof von Salzburg habe um ein da capo gebeten. Es heißt, in einem Saal, in dem einige der besten Musiker Europas zusammengekommen waren, habe sie ein Spiritual gesungen, das diese Menschen unmöglich begreifen konnten, aber die Zuhörer hätten begriffen. Und kein Einziger traute sich zu applaudieren, als der letzte Ton verklungen war.
Wie fühlte sich das an, wenn der Ton frei auf der Luftsäule schwebte, wenn er darauf tanzte und der kleinsten Regung des Geistes folgte? Das Öffnen der Stimme, der
Weitere Kostenlose Bücher