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Der Klang der Zeit

Der Klang der Zeit

Titel: Der Klang der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Powers
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Albtraum seine Fortsetzung. Ihre Mutter besteht darauf, dass sie zum Osteressen bleibt. »Zuerst isst du ein Stück von meinem Braten und ein paar Löffelvoll Gemüse, damit du was Ordent-liches im Magen hast. Gerade wenn du aus dem Haus gehst.«
    »Mama. Bitte. Nur dieses eine Mal. Ich verpasse noch das Konzert. Ich muss den frühen Zug erwischen, sonst ist alles vorbei, bevor ich überhaupt –«
    »Unsinn«, winkt ihr Vater ab. »So was dauert ewig. Hast du schon mal erlebt, dass bei unseren Leuten ein Konzert zum angekündigten Zeitpunkt beginnt? Wann soll es überhaupt losgehen?« Dieselbe Leier bekommt sie jede Woche zu hören, wenn er sie zur Chorprobe bei den Baptisten fahren soll. Immer wieder gibt er ihr mit seinen Scherzen zu verstehen, wie bitter enttäuscht er von ihr ist.
    Es hätte ihm nicht genügt, wäre sie nur für schwarze Verhältnisse erfolgreich gewesen. Sie, William Daleys Erstgeborene – ein klügeres Baby hat's nie gegeben, ob schwarz oder weiß –, sollte die beachtlichen Höhen, die er selbst erklommen hatte, noch weit hinter sich lassen. Sie sollte Medizin studieren. Wie er. Sollte Kinderärztin werden, Internistin vielleicht. Sie hätte alles werden können, wäre sie nicht so halsstarrig gewesen. Ihren Vater überflügeln können. Hätte Jura studieren können, die erste farbige Frau überhaupt. Sie wäre so gut gewesen, damit hätte sie ihre Aufnahme erzwungen. Ja, weiß der Himmel, sie hätte für den Kon–gress kandidieren können.
    Den Kongress, Daddy?
    Warum nicht? Sieh dir unsere Nachbarin an, Crystal Bird Faucet. Die sitzt jetzt im Lokalparlament – dabei bist du schneeweiß im Vergleich zu ihr. Die schafft es noch bis nach Washington, wart's nur ab. Wer soll uns denn voranbringen, wenn nicht die Beste von uns? Und die Beste, darauf bestand er, war sie. Einer musste doch der Erste sein. Warum nicht sein kleines Mädchen? Du machst Geschichte. Was ist denn Geschichte anderes als das Unmögliche, das man möglich macht?
    Das ist das grenzenlose Vertrauen, das sie aus der Bahn geworfen hat. Ohne ihn hätte sie nie gesungen. Als kleines Mädchen zu sehr verhätschelt. Du kannst werden, was du willst. Tu, was du tun willst. Die sollen nur versuchen, dich aufzuhalten. Und als sie zu singen begann: Du klingst wie die Engel, von den Toten erwacht – wenn die sich noch mit jemandem wie uns hier unten abgeben würden. An einer Stimme wie deiner könnte die kranke Welt gesunden. Wie hätte sie einer solchen Versuchung nicht erliegen sollen?
    Aber als er erfuhr, dass sie das Singen zum Beruf machen wollte, änderte sich sein Ton. Singen ist nur der Trostpreis. Singen ist ein hübscher Schnickschnack, der warten muss, bis man anständige Kleider hat. Kein Mensch hat je einen anderen mit einem Lied befreit.
    Jetzt wo sie im väterlichen Haus am Festtagstisch mit der weißen Decke steht, spürt Delia die Nachtschicht, die Schmerzen in ihren Schultern. Sie sieht ihren jüngeren Geschwistern zu, wie sie das gute Geschirr aufdecken. Die werden noch schwer zu kämpfen haben, bis sie sich das Erwachsenenleben erobert haben. Genauso viel Druck von innen wie von außen.
    Die Mutter beobachtet ihren Blick. »Es ist Ostern«, sagt Nettie Ellen. »Da wirst du doch wohl mit deiner Familie zu Mittag essen. Du sollst schließlich ein Beispiel für deine Geschwister sein. Kein Wunder, dass sie glauben, sie können sich alles erlauben. Sie glauben, sie müssen es nur machen wie du und müssen sich an keine Regel halten.«
    »Ich habe Regeln, Mutter. Mein ganzes Leben besteht nur aus Regeln.« Sie spricht nicht weiter. Sie weiß, welche Sorgen ihre Mutter sich macht. Die Maßlosigkeit ihres Mannes wird seinen Kindern zum Verhängnis werden. Wenn sie aus dem Haus gehen, werden sie etwas lernen, eine lange, große Lektion, die für alle gleich ist. Darauf sollte er seine Kinder vorbereiten, ihre Illusionen dämpfen, statt dass er sie willentlich zur Zielscheibe macht.
    Delia, das schlechte Beispiel, setzt sich zum Essen. Sie erstickt fast, so schlingt sie den glasierten Schinken hinunter. »Der ist gut, Mama. Großartig. Das Gemüse, die roten Rüben – alles perfekt. Das beste Os–teressen aller Zeiten. Aber jetzt muss ich los.«
    »Immer mit der Ruhe. Es ist Ostern. So viel Zeit hast du schon noch. Ein ganzes Konzert, da kannst du doch ein Lied oder zwei verpassen. Es kommt noch dein Lieblingsnachtisch.«
    »Vorher fährt mein Lieblingszug nach Washington.«
    «Long gone«, singt Bruder Charles den

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