Der Klang der Zeit
Innersten seid. Was ihr sein müsst. Ein jeglicher diene Gott auf seine Weise.«
Aber das war nicht die ganze Wahrheit. Auch Jonah hörte das. »Aber was sind wir? Ich meine, in Wirklichkeit. Wir müssen doch irgendwas sein.«
Sie seufzte.
»Nun sag schon.« Er wand sich aus ihrer Umarmung. »Was sind wir?«
Sie ließ uns frei. »Ihr zwei Jungs.« Sie presste es zwischen den Lippen hervor, langsamer als die spröde Predigt, die wir in der Kirche gehört hatten. »Ihr zwei, ihr seid einzigartig.«
Der Taxifahrer muss ein Schwarzer gewesen sein. Er fuhr uns bis vor unsere Tür.
Mehr sagten unsere Eltern zu dem Thema nicht, jedenfalls nicht bis zum Ende des Sommers. Wir gingen wieder mit Mutter in die Kirchen in unserem Viertel, wo alle Stimmen Teil der einen, großen Stimme waren. Der August ging zu Ende, und Jonah machte sich für den Aufbruch bereit. Unsere Musikabende verloren den Schwung. Die Akkorde klangen schwach, und keiner hatte mehr den Mut zum Kontrapunkt.
Manchmal hörten wir abends durch die Schlafzimmertür, wie Mama vor dem Spiegel saß und weinte, und Pa redete, wollte eine Antwort finden. Jonah mühte sich, die beiden zu trösten. Er sprach davon, wie gut Boston für ihn sein würde. Er würde zurückkommen und wunderbar singen, und dann würden sie froh sein, dass sie ihn geschickt hatten. Er versicherte ihnen, wie glücklich er sein würde. Er erzählte ihnen alles was sie hören wollten, mit einer Stimme, die sie zur Verzweiflung gebracht haben muss.
OSTERN 1939
An diesem Tag begeht eine Nation ihre eigene Totenfeier. Nach dem Regen der vergangenen Nacht ist die Luft kalt und klar. Der Sonntag erhebt sich rot und protestantisch über dem Potomac. Die bleicheren Verwandten des Lichts kratzen an den Prachtbauten der Hauptstadt, sie schärfen die Konturen der Regierungsgebäude im Federal Triangle, verwandeln Sandstein in Marmor, Granit in Schiefer, und lassen sich nieder auf der spiegelnden Fläche des Tidal Basin, Wasser auf der Suche nach Ausgleich. Die Farben dieses Sonnenaufgangs sind pure Ashcan School. Der frühe Morgen taucht jeden Mauersims in Magenta, und von Stunde zu Stunde werden die Farben intensiver. In der Erinnerung aber sehen wir diesen Tag für alle Zeiten in Schwarzweiß, den langsamen Schwenk der Movietone-Kamera, begleitet vom Wochenschaukommentar.
Arbeiter sind auf der Mall zugange, über die der Aprilwind die bunten Seiten einer Comiczeitung weht. Sägeböcke und Absperrkegel begrenzen die gesetzlose Weite des öffentlichen Raums. Staatliche Bautrupps – nach Rasse getrennt – legen letzte Hand an die Tribüne auf den Stufen des Lincoln Memorials. Eine Hand voll Organisatoren lässt den Blick über die spiegelnde Wasserfläche gleiten und schließt Wetten ab, wie viele Menschen sich bei diesem zum Jubelfest umfunktionierten Begräbnis einfinden werden. Die Massen, die in drei Stunden über sie herein-brechen, werden ihre kühnsten Erwartungen übertreffen.
Grüppchen von Neugierigen beobachten die letzten Vorbereitungen. Die Nachricht liegt schon länger in der Luft – die Ankündigung dieses verbotenen Konzerts. Amerikanischer Traum und amerikanische Wirklichkeit beziehen Stellung, und die Geschosse werden sich in der Luft über den Köpfen der Zuhörer treffen. Das betagte Staatsschiff, der Rumpf von Unrat verkrustet, ging gestern Abend ächzend in der Marinewerft von Washington vor Anker, und jetzt, an diesem Ostermorgen des Jahres 1939 – während sich östlich des Scott Circle und nördlich der Q-Street, bis hinauf in die Vorstädte in Maryland schon die Massen sammeln und Kirchengemeinden sich noch in ihren Wechselgesängen die alte Geschichte von der Auferstehung vorerzählen –, halten ganze Stadtviertel den Atem an und warten, ob sie am heutigen Tag den Untergang dieses löchrigen alten Kahns miterleben werden, eine ordentliche Seebestattung mit allem was dazugehört.
»Wie lang?«, fragt das Kirchenlied. »Wie lang bis zu dem Tag?« Letzten Freitag noch wagte kein Lied mehr als ein bald, und kein Sänger dachte etwas anderes als nie. Doch an diesem Morgen ist, als niemand hinsah, ein Wunder geschehen, der Stein vom Grab gerollt, die römischen Statthalter liegen zerschmettert am Boden, und der Engel verkündet seine Botschaft, sein Flügel streift das Jefferson-Denkmal, und er sagt jetzt, er singt das Lied von der Erlösung in C-Dur.
Drüben an der Pennsylvania Avenue suchen rosige Kinder auf dem Rasen des Weißen Hauses Ostereier. Drinnen,
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