Der Klang der Zeit
im Oval Office, trifft der wortgewandte Präsident mit seinen Redenschreibern letzte Vorkehrungen für das neueste Plauderstündchen am Kamin, die Botschaft an eine Nation, die immer noch hofft, dass sie den Flammen entgehen kann.
Mit jeder väterlichen Radioansprache klingen die Beschwichtigungen hohler. »Gewalt«, verkündet der alte Mann den um den Kamin Versammelten, »ist ein Albtraum, aus dem die Demokratie uns wecken muss.« Eine freundliche Lüge, die jene, die noch nie nordwärts über die 14. Straße hinausgekommen sind, vielleicht sogar überzeugt. Aber an diesem Ostersonntag sucht Roosevelts Ansprache über die Zuspitzung der Krise vergeblich nach einem Publikum. Heute sind die Radios der Nation auf einen anderen Sender eingestellt, sie hören eine Stimme, die weiter trägt. Heute sendet Radio America ein neues Lied.
Demokratie steht heute Nachmittag nicht auf dem Programm. Die Glocke der Freiheit wird nicht erklingen in der Constitution Hall. Dafür haben die Daughters of the American Revolution gesorgt. Die Daughters of the American Revolution haben ihre Türen vor Marian Anderson verschlossen, der größten Altistin des Landes, vor kurzem erst zurück-gekehrt von einer triumphalen Europatournee, gefeiert in Österreich, vom norwegischen König mit einem Trinkspruch geehrt. Sibelius umarmte sie und erklärte: »Mein Raum ist nicht hoch genug für Ihre Stimme!« Sogar in Berlin waren mehrere Auftritte vorgesehen, bis ihr europäischer Agent den Behörden gestehen musste, dass Miss Anderson leider nicht ganz, nicht hundert Prozent arisch sei. Der große Sol Hurock, Konzertagent vieler internationaler Künstler, hat sie unter seine Fittiche genommen, überzeugt davon, dass ihm das Wunder des alten Europa auch hier in der Heimat gelingen wird. Im vergangenen Jahr hat er Miss Anderson auf eine Amerikatournee mit siebzig Liederabenden geschickt, die längste Konzertreise dieser Art, die es je gegeben hat. Und diese Sängerin hat man nun von der besten Bühne der Hauptstadt verbannt.
Was ist das für eine Revolution, die die Töchter, verschanzt in ihrer strahlend weißen Säulenhalle, verhindern wollen? »Ausgebucht bis zum Ende des Winters«, lässt die Direktion den Agenten wissen. »Und für das Frühjahr.« Die Agentur schickt eine neue Anfrage, für einen anderen Künstler, einen hundert Prozent arischen. Und bekommt ein halbes Dutzend Termine zur Auswahl.
Hurok informiert die Presse, obwohl die Geschichte ja alles andere als neu ist. Genauer gesagt ist es die älteste Fortsetzungsgeschichte des Landes. Die Presse bittet die Daughters um eine Stellungnahme. Ist es Prinzip oder war es nur ein unglücklicher Zufall? Die Töchter der amerikanischen Revolution antworten, dass es in der Stadt Tradition sei, dass Leute wie Miss Anderson nur in bestimmten Konzertsälen aufträten. Die Constitution Hall gehöre nicht zu diesen Sälen. Die Töchter
hätten es sich zum Prinzip gemacht, die örtlichen Gepflogenheiten zu respektieren. Wenn sich die öffentliche Meinung ändere, könne Miss Anderson jederzeit dort singen. Irgendwann in der Zukunft. Oder kurz danach.
Der Daily Worker ist in seinem Element. Künstler machen ihrer Empörung Luft – Heifetz, Flagstad, Farrar, Stokowski. Aber Amerika kümmert sich nicht um diese ausländischen Stimmen. Tausende von Unterschriften auf einer Petition bleiben wirkungslos. Und dann platzt die Bombe. Eleanor Roosevelt, die Mutter der Nation, verlässt deren Töchter. Sie kündigt ihre Mitgliedschaft bei den Daughters of the American Revolution auf. Von einem Tag auf den anderen kappt die Frau des Präsidenten ihre Wurzeln und erklärt, für diese Republik hätten ihre Ahnen nicht gekämpft. Die Geschichte macht Schlagzeilen, nicht nur hier, auch im Ausland. Miss Anderson wechselt attacca vom Kunstlied ins drama-tische Opernfach. Aber ihre Altstimme ist der einzige ruhende Punkt im Sturm der nationalen Erregung. Den Reportern antwortet sie, sie wisse weniger über die Angelegenheit als jeder Einzelne von ihnen. Ihre Gelassenheit ist wie ein sanfter Lufthauch, aber er reicht aus, um in der alten Asche ein neues Feuer zu entfachen.
Seit dem Ende des Bürgerkriegs haben alle Präsidenten die Rassentrennung geduldet. Jetzt wird ein Liederabend zum Prüfstein für das Ansehen der Regierung. Die hohe Kultur zieht mit wehenden Fahnen in die Schlacht, und es geht nicht mehr nur um einen weiteren Tritt, den man dem geschundenen Neger versetzt, sondern auch um Schubert und
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