Der Klang der Zeit
Dowland-Noten rochen, die noch an uns hingen, und zum Angriff übergingen. Ich hätte wenden und die Flucht ergreifen sollen. Aber dieser unaufhaltsam vorandrängende Mob stand so weit außerhalb aller Regeln des gewöhnlichen Lebens, dass ich dasaß wie gelähmt und einfach nur abwartete, was geschah. Es war, als hätte jemand einen Bienenschwarm aufgestört. Die Masse griff einen Polizeiposten an. Schon beim Sturm der Vorhut liefen die Beamten auseinander. Keiner gab Kommandos, aber die Masse bewegte sich wie von unsichtbarer Hand gelenkt. Die vordersten Reihen schwenkten nach Westen, auf uns zu. Ich erwachte aus meiner Trance, wendete hastig und fuhr mitten hinein in den hupenden Gegenverkehr.
»Was machst du denn da?«, rief Jonah. »Wo willst du hin?« Zum ersten Mal in meinem Leben hörte ich nicht auf ihn. Irgendwie brachte ich uns zurück auf den Harbor Freeway, Richtung Norden. Unser Hotel weit draußen in View Park fühlte sich unwirklich an nach dem Drama, dessen Zeuge wir gerade geworden waren. Wir taten beide kein Auge zu.
Die Morgenzeitungen waren voll von der Geschichte. Aber was sie berichteten, war nicht das, was wir gesehen hatten. Es war unglaublich, wie sehr die offiziellen Berichte verharmlosten und verzerrten. Tapfer leugnete das Radio den Ernst der Lage. Alle im Hotel waren geschäftiger denn je. In den Straßen herrschte an diesem Donnerstagmorgen eine gezwungene Heiterkeit, die aber die gespannte Erwartung nur mit Mühe verbergen konnte. Auch wenn die Stadt sich noch so anstrengte, sich zu beschwichtigen, wappnete sie sich doch schon für die kommende Nacht.
Zum Mittag fragten wir im Studio nach, ob noch letzte Retuschen notwendig waren. Aber alles war gut: Die Aufnahmen des Vortags hörten sich im Licht des Tages sogar noch besser an. Ich war erleichtert –Jonah hätte den Dowland nicht noch einmal so singen können, nicht nach den Erlebnissen des vergangenen Abends. Selbst den Harmondial-Leuten fiel auf, wie verstört er war. Keiner wurde mit diesen Vorfällen fertig. Die Techniker machten nervös ihre Witze, als rechneten sie damit, dass auch wir uns vor ihren Augen von elisabethanischen Troubadouren in Plünderer verwandelten. Um vier Uhr nachmittags verabschiedeten die Produzenten uns mit Umarmungen und begeisterten Prophezeiun-gen für den Erfolg unserer ersten Platte. Für den Abend war der Rück-flug gebucht. Es blieben noch ein paar Stunden.
»Joey?« Es klang, als fürchte seine Stimme sich vor sich selbst. »Ich muss mir das nochmal ansehen.«
»Noch ... Nein, Jonah. Bitte. Sei vernünftig.«
»Nur ein kleiner Umweg auf der Fahrt zum Flughafen, Joey. Ich kriege das einfach nicht aus dem Kopf. Was haben wir gestern Abend gesehen? So etwas habe ich in meinem ganzen Leben noch nicht erlebt, nicht an-nähernd.«
»Das heißt aber doch nicht, dass du es nochmal erleben musst. Wir können froh sein, dass wir da unbeschadet rausgekommen sind.«
»Unbeschadet?«
Ich senkte den Blick. »Ohne körperlichen Schaden. Und das andere –was hätten wir denn ...?« Aber Jonah wollte keine Entschuldigungen von mir hören. Er hatte eine Lücke in seiner Erziehung entdeckt, etwas, das kein Lehrer ihm vermitteln konnte. Er hörte ein Signal, das die Jahre, die noch vor ihm lagen, ihm sandten. Er musste noch einmal dorthin, er musste es hören. Er traute nichts anderem mehr als einem Sinn, der schließlich sein Tod sein sollte.
Jonah fuhr, ein Zugeständnis an meinen Ärger. Wir erreichten die Gegend, in der wir am Vorabend gewesen waren, um kurz nach fünf. Die Häuserzeilen an der Schnellstraße hätten ihm genügen sollen. Überall glitzerten die Scherben der eingeschlagenen Fensterscheiben, ein Teppich aus gläsernen Diamanten. Hie und da klebte der Ruß von gelöschten Bränden an Stuck und Beton. Grüppchen von Teenagern waren auf den Bürgersteigen unterwegs. Wo Weiße zu sehen waren, waren sie bewaffnet und uniformiert. Jonah steuerte den Mustang auf ein verlassenes Grundstück. Er stellte den Motor ab und öffnete die Tür. Ich protestierte nicht; wenn etwas geschieht, das man einfach nicht glauben kann, versiegen die Einwände.
Er sah mich nicht einmal an. »Komm mit, Bruder.« Er war schon am anderen Ende des müllübersäten Grundstücks, bevor ich etwas entgegnen konnte. Ich schloss meine Tür ab – lächerlich bis zuletzt – und lief, damit ich nicht den Anschluss verlor. Wieder waren Tausende zusammengekommen, doppelt so viele wie am Abend zuvor. Schon agierten nicht mehr
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