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Der Klang der Zeit

Der Klang der Zeit

Titel: Der Klang der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Powers
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Avenue, wo wir in das Inferno hineingeraten waren. Es herrschte eine Gluthitze, der Asphalt unter unseren Füßen schmolz. Jonah bekam immer schlechter Luft. Wir mussten langsamer gehen. An einer Straßenecke blieb er stehen und streckte die Hand aus, um mich zu beschwichtigen, um die Erstickung abzuwehren. »Weiter; immer in Bewegung bleiben.«
    Ich brachte ihn dazu, dass er sich an die Wand lehnte und Atem schöpfte, bis sein Herz sich beruhigt hatte. Während wir dort standen, Jonah vorgebeugt, auf mich gestützt, kam ein hellhäutiger älterer Mann vorbei und berührte uns am Rücken. Ich fuhr herum, aber der Grauhaarige ging weiter, als sei nichts gewesen. In der Hand hielt er einen Pinsel und eine Dose Farbe. Auf Jonahs nacktem Rücken und den Schößen meines Hemds hinterließ er einen fleckigen braunen Streifen. Der Mann tauchte in die Menge ein, markierte alles mit seinem Zeichen, was lange genug still hielt.
    Jonah sah mein Hemd, aber seinen Rücken konnte er nicht sehen. »Ich auch? Hat er mich gut erwischt?«
    »Ja. Hat er.«
    Er atmete leichter. »Dann sind wir hier fertig, Muli. Pass gestempelt. Visum erteilt. Glückliche Reise.« Er machte sich wieder auf den Weg, summte vor sich hin. Ich fasste ihn am unverletzten Arm und führte ihn. Er schien wirrer als alles um ihn herum. Wir erreichten die 112. Straße und wandten uns nach Westen, in Sicherheit. Aber sicher würden wir nie wieder sein. Aus zwei Häuserblocks Abstand sah ich die Polizei-absperrung, durch die wir beim Hinweg geschlüpft waren. Sie war verstärkt worden. Drei Reihen Polizisten drängten nun die Front der Steinewerfer immer weiter zurück. Molotowcocktails flogen und zer-platzten flammend. Das Watts-Viertel tat alles, um den Aufstand nach Westmont, Inglewood, Culver City zu tragen. In Gegenden, wo es etwas Teureres zu verbrennen gab.
    »Komm, Muli.« Er klang betrunken. »Immer weitergehen. Wir müssen nur reden, dann kommen wir schon durch.« Aber er brachte ja kaum noch einen Satz hervor. Ich wusste, was die Polizei tun würde, wenn wir auch nur in ihre Nähe kamen. Niemand kam durch diesen Kordon nach draußen. Das ganze Viertel war von tausend Polizisten umstellt, und sie hielten die Bewohner mit vorgehaltener Waffe in Schach. Hinter der Polizeimauer hatte die Nationalgarde Aufstellung genommen. Und hinter der Garde wartete das Militär. Wir waren von der Außenwelt abgeschnitten, gefangen in diesem Pferch. Mein Bruder war zu hell, um drinnen zu überleben, und ich war zu dunkel um uns nach draußen zu bringen.
    Ich zerrte Jonah wieder nach Süden, durch eine unkrautüberwucherte Gasse; sie mündete auf eine Straße entlang einer Eisenbahnlinie, die uns den Weg abschnitt. Das Echo von Schüssen hallte von den Wänden wider, prasselte aus allen Richtungen gleichzeitig, irreal, wie Zünd–plättchenrevolver, die man in Mülleimer hält. Ich steuerte uns nach Südwesten, und plötzlich merkte ich, dass wir direkt auf den Imperial Highway zuhielten. Mitten ins Schlachtgetümmel hinein.
    Eine Gruppe von Aufständischen hatte den Polizeigürtel durchbrochen und schwärmte in die umliegenden Straßen aus. Im Gegenzug marschierte die Polizei in die Zuschauer hinein und attackierte jeden, der nicht schnell genug floh; die Männer rissen sie auseinander wie ein Hund, der ein Eichhörnchen zu fassen bekommt. Leute wurden auf die Straße gestoßen, gegen Wände geschleudert, Schüsse fielen, Glas splitterte, und die aufgescheuchte Menge rannte und schrie.
    Jonah blieb zurück, rang nach Luft, lehnte sich in einen Hauseingang. Er beugte sich vor, wollte der Brust ihre Spannung nehmen. Den linken Arm hatte er an den verletzten rechten gedrückt. Erschrocken wies er auf mein Bein. Ich blickte hinunter. Die Hose war zerrissen, das rechte Schienbein blutete. Wir standen da, Leute stürmten vorbei wie aus der Umlaufbahn geschleuderte Planeten, so nahe, dass wir sie berühren konnten.
    Ein Schrei drang zu uns herüber. Ein einzelner weißer Polizist verfolgte knüppelschwingend zwei alte, schon blutig geschlagene Schwarze, die auf unsere Tür zuhielten und dann einen Haken schlugen, als sie uns sahen. Der Polizist, weniger wendig, stutzte einen Moment, dann entdeckte er uns. Ich malte mir aus, wie er uns sehen musste: mein verletztes Bein, Jonah zusammengekrümmt, das Hemd halb vom Leibe gerissen, sein Arm blutig, beide atemlos keuchend, mit einem braunen Farbstreifen markiert. Er kam mit erhobenem Knüppel auf uns zu. Ich hielt mir die Arme vors

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