Der Klang der Zeit
Einzelne, sondern die Masse. Die Polizei war hilflos, noch viel hilfloser als man nach den Zeitungsberichten geglaubt hätte. Man sah es in ihren Gesichtern: Wir haben so viel für sie getan; warum machen sie das? Ihre Strategie beschränkte sich darauf, einen größeren Bereich abzuriegeln, sodass die Gewalt auf die Viertel der unmittelbaren Umge-bung beschränkt blieb, und ansonsten warteten sie auf die Nationalgarde. Jonah suchte den Polizeikordon ab und fand eine Lücke zwischen einem Spirituosenladen und einem ausgebrannten Imbiss. Nachdem er sich vierundzwanzig Jahre lang im Haus versteckt hatte, wählte mein Bruder ausgerechnet diesen Abend, um aus der Deckung zu kommen.
Wir gingen die Gasse hinunter und schlüpften durch die Lücke in der Absperrung. In der Straße, auf die wir kamen, schienen die schlimmsten Phantasien Wirklichkeit geworden. Aus drei umgestürzten, brennenden Autos quoll schwarzer Qualm. Feuerwehrleute versuchten zu löschen, aber die Menge trieb sie mit Steinwürfen zurück und schürte das Feuer noch.
Es gab zu diesem Chaos keine Partitur. Es entfaltete sich einfach rings-um, ein Ballett, das bis an den Horizont reichte. Drei Dutzend Leute tauchten plötzlich vor uns auf und verwüsteten ein Gemüsegeschäft. Ihre Körper wirkten bei dieser Arbeit geradezu entspannt, gemächlich. Sie machten sich gemeinsam an die Arbeit, improvisierten, reichten sich Hilfsmittel – Hämmer, Äxte, Benzinkanister –, als überreichten sie die Hölzer in einem Staffellauf. Eine gespenstische Kadenz, langsam, träge, wie unter Wasser, ein langsamer, geschmeidiger Lauf, als hätten die An-weisungen für die Apokalypse sich über Generationen hinweg vervoll-kommnet.
»Der reine Wahnsinn, Muli«, brüllte Jonah durch das Heulen der Sirenen hindurch. »Dancing in the Streets!« Sein Gesicht leuchtete, jetzt endlich Auge in Auge mit dem, wonach er immer gesucht hatte. Zweitausend Aufständische zogen vorüber. Jonah, mir vier Schritte voraus, verlangsamte sein Tempo. Je mehr es ringsum zu brodeln begann, desto mehr ergriff der eine Gedanke Besitz von mir: Er ist zu hell für hier. Er war ein zerbrechlicher, verletzlicher Junge, der mit großen Augen zuhörte, wie die Walküren aus dem Radio geritten kamen.
Jonah blieb stehen, sah sich die Flammen an, die zu seiner Linken loderten. Unwillkürlich hatte er die Hände gehoben, als wolle er den Marodierenden winken, als gebe er ihnen die Einsätze für ihre Angriffe. Er dirigierte. Er schlug den Takt, brachte Ordnung in das Chaos, so wie er es immer tat, wenn er Musik hörte, die ihn besonders rührte. Beim Näherkommen merkte ich, dass er vor sich hinsummte. Auf sein Zeichen erhob sich hinter uns ein Stimmengewirr, eintönig, doch an- und abschwellend in seinem Takt, eine Mischung aus Rhythmus und Melodie. Aus tausend Kehlen der wogenden Masse erscholl dieser Ton. Ein Ton, den ich mein Leben lang nicht vergessen werde.
Der Polizei wollte vor allem verhindern, dass die Gewalt auf die weißen Viertel übergriff. Das meiste bekamen die Feuerwehrleute ab. Sie ließen die Autos brennen und konzentrierten sich darauf, die Läden zu löschen. Das Zischen der Schläuche und das Stimmengewirr der Masse verschmolzen zu einem riesigen Chor. Jonah sah zu, ganz in eine Betrachtung versunken, die ich nicht verstand. Er war berauscht von der Erregung. Vollständiger Zusammenbruch: Leben spritzten in alle Richtungen, selbst gemachte Bomben detonierten, alle Regeln der Vernunft waren außer Kraft.
Er blieb vor einem Leihhaus stehen, wo ein halbes Dutzend Kinder mit einer Mülltonne die Ladentür einwarf. Sie warfen die Tonne, liefen zurück, holten die Tonne, warfen, liefen wieder. Die Tür zerstob in einem Hagel von Glaskrümeln. Einer nach dem anderen verschwanden die Plünderer in der Höhle. Jonah stand reglos da, als warte er auf die Erscheinung. Nach einem Augenblick, in dem ich Höllenqualen litt, kamen die Schatzsucher wieder hervor, trugen einen Fernseher, eine Stereoanlage, eine Messing-Stehlampe, neue Mützen für alle und zwei Gewehre. Entschädigung für drei Jahrhunderte.
Ich hielt Abstand, blieb zwei Ladentüren entfernt. Jonah stand ein paar Schritte vor mir, direkt am Ort des Geschehens. Er stand mit gespreizten Beinen da, beugte sich vor, um das Chaos noch näher zu spüren. Er sah die Akteure laufen, als hinge die Zukunft der Welt davon ab, dass sie diese verbotenen Güter ergatterten, hier im letzten Akt des Dramas. Und mitten in diesem Traum, den sie
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