Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Klang der Zeit

Der Klang der Zeit

Titel: Der Klang der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Powers
Vom Netzwerk:
über Tonika, Subdominante und Dominante hinaus. Das waren die, die ihm Angst machten. Die, von denen er gar nicht genug bekommen konnte.
    Ich musste fahren, und er dirigierte mich mit den Hits von 1965 durch die Stadt. Stop! In the name of love. Turn! Turn! Turn! Over and Over! Und als wir uns endgültig verfahren hatten: Help! I need somebody. Help ! Bis wir das Studio für unsere erste Aufnahme gefunden hatten, improvi-sierte Jonah schon über Songs, die er nach einem einzigen Hören schon auswendig kannte. All we need is music, sweet music. In Chicago. New Orleans. New York City. They're dancin in the streets. Die Toningenieure waren begeistert, als sie ihn hörten. Sie ließen ihn den Soundcheck mit My baby don't care machen, in jeder erdenklichen Tonlage, bis hin zum höchsten Kontratenor und zum tiefsten Bariton.
    »Mann, wieso singst du Schubert?«, fragte einer. »Mit so einer Stimme, da könntest du doch richtig Geld machen.«
    Jonah sagte ihnen nicht, dass die zwölfhundert Dollar Vorschuss, die Harmondial zahlte, für uns ein kleines Vermögen waren. Und keiner kam darauf, warum aus dieser Idee nichts werden konnte: Bei ihm klang »I Hear a Symphony« von den Supremes, nun, symphonisch – ein Gag, den man nur einmal bringen konnte, mein Bruder, die Eintagsfliege mit ihren tongenauen, atemtechnisch korrekten Rhythm-and-Blues-Liedern, den Motown-Motetten.
    Wir blieben bei Schubert, und mit dem vierten Anlauf änderte sich auch die Einschätzung der Toningenieure. In Jonahs Kehle erwachten all die toten Melodien zu neuem Leben, waren wieder Popsongs wie zu ihrer Entstehungszeit. Mit seiner Stimme gesungen, verkündeten sie: Wir sind immer noch jung. Etwas in dem knapp einstündigen Programm von Liedern, das wir in den nächsten Tagen aufnahmen, sagte jedem, dass die Jahrhunderte einfach nur Noten sind, die auf ihrem Heimweg an uns vorüberziehen.
    All das höre ich in dieser Platte noch heute. Die Stimme meiner Mutter ist da, klingt durch die seine hindurch, aber auch die meines Vaters. Es gibt keinen Anfangspunkt. Wir tasten uns immer weiter zurück, von Unglück zu Unglück, durch jedes Land, das man uns genommen hat. Aber das Ende ist überall und immer. Wir stehen still und schauen: Das ist die Botschaft dieses Klangs, der von der Ziellinie rückwärts läuft.
    Mein Bruder kicherte, als er die ersten Bänder abhörte. »Hör sich das einer an! Klingt wie eine echte Platte. Das machen wir von jetzt an immer.«
    Jonah hörte Schwächen, die kein Toningenieur wahrnahm. Wir verbrachten zwei ganze Tage, in denen die Stimmung sich zusehends verschlechterte, mit dem Kampf zwischen Produktionskosten und einer unhörbaren Perfektion. Die Produzenten waren gleich von den ersten Takes beeindruckt, aber Jonah wand sich vor Schmerz. Sie erklärten uns, wie leicht sich ein Takt einmontieren ließe, um eine Schwäche zu korrigieren. Jonah war empört. »Das ist ja, als ob man einem Straßenjungen Adlerschwingen ankleben und ihn dann als Engel ausgeben würde.«
    Jonah lernte, das Mikrophon zu umschmeicheln, ein Ausgleich für die Unerbittlichkeit der Technik. Unter dem Druck des Kompromisses bekamen unsere Aufnahmen die Intensität eines Livekonzerts. In dem schalltoten Raum brachte Jonah seine Stimme zum Strahlen. Er sang und schickte seine Töne in die Zukunft, zu Menschen Hunderte von Jahren weit fort.
    Am Abend des dritten Tages, als wir die drei Lieder von Wolf bis auf ein paar wenige Resonanzen tatsächlich so hinbekommen hatten, wie sie vor seinem inneren Ohr klangen, setzten wir uns mit der Frau zusammen, die bei Harmondial für die Pressearbeit zuständig war. Das Mädchen kam frisch von der Schulbank. »Ich bin so froh, dass Sie beide Brüder sind.«
    Ich zappelte wie ein Fisch auf dem Trockenen. Jonah sagte: »Wir auch.«
    »Brüder, das macht sich immer gut. Die Leute mögen Brüder.« Ich wartete nur, dass sie fragte: Waren Sie schon immer Brüder? Wie sind Sie zusammengekommen? Stattdessen fragte sie: »Wie sind Sie zur klassischen Musik gekommen?«
    Wir wussten beide nicht, was wir sagen sollten. Wie lernte man atmen? Dann ging es mir auf: Die Geschichte, die dieses Mädchen sich längst zurechtgelegt hatte, würde sich im Pressetext und auf dem Albumcover finden, ganz egal, was wir sagten. Selbst wenn wir ihr von unseren Familienabenden erzählt hätten, hätte sie es nicht gehört. Jonah überließ es mir, mit ein paar Strichen ein Bild zu skizzieren. »Unsere Eltern entdeckten unsere musikalische

Weitere Kostenlose Bücher