Der Klang der Zeit
Begabung schon in frühem Alter. Sie schickten uns auf eine private Musikschule in Boston.«
»Privatschule?« Das schien dem Marketing nicht zu gefallen.
»Ein Internat zur Vorbereitung auf das Konservatorium. Ja.«
»Und Sie hatten ... Stipendien?«
»Teilweise«, antwortete Jonah. »Den Rest haben wir uns mit Geschirr-spülen und als Hotelpagen verdient. Alle waren sehr großzügig zu uns.« Ich schnaubte, Jonah warf mir einen gekränkten Blick zu, und das arme Mädchen wusste überhaupt nicht mehr, woran es war.
»War die Musik, die Sie an der Schule lernten, ... ganz anders als die, mit der Sie groß geworden waren?«
Jonah konnte sich nicht beherrschen. »Also, die Tempi waren in Boylston oft reichlich schleppend. Aber daran war nicht die Schule schuld. Manche Kinder hatten einfach zu Hause nichts gelernt. Als wir erst einmal in Juilliard waren, wurde es ein wenig besser.«
Sie schrieb sich alles auf einem kanariengelben Notizblock auf. Wir hätten ihr erzählen können, was wir wollten, und Jonah nützte es weidlich aus. »Hatten Sie Vorbilder? Ich meine, was den ... klassischen Gesang angeht.«
»Paul Robeson«, antwortete Jonah. Das Mädchen schrieb sich den Namen auf. »Nicht so sehr der Stimme wegen. Die Stimme war ... schon in Ordnung. Aber was uns beeindruckte, war seine politische Einstel-lung.«
Anscheinend war sie noch nie auf den Gedanken gekommen, dass ein berühmter Sänger etwas mit Politik zu tun haben könnte. Mr. Weisman hatte Recht gehabt. RCA Victor war es nicht. Und nur einmal war das erste Mal. Ich sah zu, wie Jonahs Antworten in die Akten wanderten, wo sie genauso lange gegenwärtig bleiben würden wie die Musik, die wir gerade aufgenommen hatten.
Das Mädchen bat uns um ein Foto. Wir reichten ihr unsere Mappe, in der die Bilder zusammen mit den Zeitungsausschnitten steckten. »So viele Besprechungen!« Sie nahm das Foto, von dem ich wusste, dass sie es nehmen würde, dasjenige, auf dem die Zirkusnummer, die Harmon-dial gerade gekauft hatte, am besten zur Geltung kam. Etwas, das ihren Katalog aus den vielen aufstrebenden Labels herausstechen ließ: Eine Nummer mit zwei Brüdern, schwarz aber gut aussehend. Sie suchte sich das Bild aus, auf dem wir am bravsten, am harmlosesten aussahen, das Bild, das dem Käufer sagte: Nicht alle Neger wollen zerschlagen, was dir wertvoll ist. Manche treten sogar gern als niedere Chargen deiner Kultur auf.
Im Wagen, auf dem Rückweg zum Hotel, sang Jonah: »I wish they all could be California girls.«
»Weiß Gott, wie sie sich uns wünschen würde.« Jetzt war uns beiden klar, welches Wort der Times-Kritik uns den Plattenvertrag beschert hatte. Die aufstrebende Firma wollte sich die viel versprechende schwarze Stimme sichern, die unbesetzte Nische. Mit den Bürgerrechten kamen umso größere, schrankenlose Märkte. Die gleiche Logik hatte gerade Billboard dazu veranlasst, die R & B - mit den Rock-n'-Roll-Charts zusammenzulegen. Bald würden alle alles singen, alle würden alles hören, und Harmondial hatte von der Verbrüderung den Profit.
Am Mittwochabend, zwei Tage darauf, war die Aufnahme fertig. Der Produzent wollte, dass die Platte mit Dowland endete. Ich wählte dafür das Rhythmusklavier des Studios, eine seltene Verbindung aus gedämpftem Klang und präziser Mechanik, mit der ich die Griffe einer Laute nachahmen konnte. Heute käme bei solcher Musik niemand mehr mit einem Klavier durch. Aber vor einem Dritteljahrhundert konnte jeder noch selbst bestimmen, was für ihn Originalklang war. Zeit steht still. Aber nie lange am selben Ort.
Jonahs Vortrag war auf Anhieb perfekt. Nur war der Toningenieur so verzaubert von seiner ersten Begegnung mit der Zeitlosigkeit, dass er nicht merkte, wie seine Zeiger in den roten Bereich gingen. Der zweite Versuch war bleiern, Jonahs Rache dafür, dass sie ihm den ersten verdorben hatten. Die nächsten fünf waren allesamt nicht zu gebrauchen. Es war das Ende einer harten Woche. Er bat um zehn Minuten Pause. Ich ging nach draußen, spazierte über den Gang vor dem Aufnahmeraum, damit mein Bruder einen Moment für sich sein konnte.
»Joey«, rief er, »verlass mich nicht!« Als ließe ich ihn schutzlos am Abgrund zurück. Er wollte, dass ich bei ihm sitzen blieb, aber nicht sprach. Panik hatte ihn befallen beim Gedanken, dass er eine Botschaft aussandte, die über seinen Tod hinaus Bestand haben würde. Schweigend saßen wir fünf Minuten lang beieinander, und aus fünfen wurden zehn: das letzte Jahr,
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