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Der Klang der Zeit

Der Klang der Zeit

Titel: Der Klang der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Powers
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gemeinsam träumten, blickte einer der frisch bewaffneten Jungen auf und sah, wie mein Bruder ihn anstarrte. Er kam auf Jonah zugerannt, wedelte mit seiner kurzen Flinte, als wäre sie ein Pingpongschläger. Mein Körper rührte sich nicht, ich stand in nächster Nähe und doch wie auf einem anderen Kontinent. Ich wollte rufen, aber ich spürte meine Kehle nicht mehr. Der Junge brüllte im Laufen etwas. Seine Worte zerplatzten in der Luft, die Laute kamen geflogen wie Schrotkugeln. Seine Freunde, die schon die Flucht ergriffen hatten, machten kehrt, stellten sich der Herausforderung. Auch der andere bewaffnete Junge richtete sein Gewehr jetzt auf Jonah. Es war so schwer, dass es ihm den Arm herabzog, eine schlecht gemachte Requisite.
    »Was willst du hier?« Der erste Junge erreichte Jonah, der reglos da stand, die Arme gespreizt. »Mach dass du wegkommst. Ihr habt hier nichts zu suchen.« Der Junge bewegte seinen Schießprügel hin und her wie ein Schlangenbeschwörer. Seine Hände zitterten. Jonah stand, wie er immer auf der Bühne stand, an einen imaginären Konzertflügel gelehnt, im Begriff, den ersten Ton eines großen Liederzyklus zu singen. Die Winterreise. Er stand da, als säße ich direkt hinter ihm an den Tasten.
    Im nächsten Augenblick war der zweite Junge da. Er stürzte herab wie aus einer Umlaufbahn, versetzte Jonah einen Stoß und schleuderte ihn zu Boden. Mein Bruder krümmte sich vor Schmerzen, dann lag er still, eine große Schürfwunde am Arm.
    »Hat der Scheißkerl dir was getan ?«, rief der erste Junge dem Zweiten zu. Jetzt standen beide über ihn gebeugt, drohten mit ihren Waffen, zitterten, zuckten. »Mach, dass du zurück in deine Berge kommst, Scheißkerl. Nach Bel Air, wo du hingehörst.« Als könne selbst der Tod diesen Eindringling nur in die weißen Viertel schicken.
    Ich fand meine Stimme wieder. »Er ist schwarz. Der Mann ist ein Schwarzer.« Ich war zu weit fort. In dem Lärm konnten sie mich nicht hören. Ich krächzte. Eine kräftige Stimme war nie meine Stärke. »Der Mann ist mein Bruder.«
    Die zwei Bewaffneten starrten mich an. Einer richtete seine Waffe auf mich. »Das? Das ist kein Bruder.«
    »Der Mann ist schwarz.«
    Ausgerechnet jetzt streckte Jonah sich lang auf dem Bürgersteig aus, als wünsche er sich tatsächlich den Tod. Er blickte hinauf in den rauchverhangenen Himmel. Seine Lippen bewegten sich. Man hätte denken können, dass er um Gnade flehte, betete. Aber aus seinem Mund kamen keine Worte, nur ein gespenstisches gleichförmiges Stöhnen.
    Da wusste ich, dass einer dieser zitternden Jungen ihn erschießen würde. Ein Mord spielte hier keine Rolle: nur eine weitere Willkürtat am Ende der Zeit. Jonah bewegte die Lippen, stieß sein Stöhnen aus, zum Ende bereit. Aber dieser gleichmäßige Laut aus der Kehle der Gestalt, die da am Boden ausgestreckt lag, machte den Angreifern Angst. Die beiden Jungen wichen zurück vor dem Geheul des Zombies. Ihre Freunde mit dem Fernseher und der Stereoanlage riefen von hinten, sie sollten laufen. Die Polizei kam, sie würden schießen. Die beiden Bewaffneten sahen mich an, dann Jonah, dann blickten sie nach oben in den Krematoriumsqualm, zu dem mein Bruder emporsang. Noch immer starrten sie, dann machten sie kehrt und liefen.
    Ich ließ mich neben ihn auf den Bürgersteig fallen, schluchzte, zerrte an dem zerrissenen Hemd. Meine Erleichterung wandelte sich in Wut. »Verdammt, was haben wir hier zu suchen? Weg hier. Sofort.« Ich hatte mich wieder erhoben und musste mich beherrschen, dass ich Jonah, der noch immer am Boden lag, keinen Tritt in die Rippen versetzte.
    Er sah mich an, schockiert. »Was?« Blut sickerte ihm den Arm hinunter. Schmutz kam ihm in die Wunde. »Was wohl? Erfahrung, Joey. Wir müssen wissen, wie es ist.« Er lachte, obwohl er sich unter Schmerzen wand.
    Ich setzte ihn auf, brüllte ihn immer noch weiter an. Ich wickelte ihm ein Stück Hemd um den verletzten Arm. »Lieber Himmel! Die wollten dich umbringen!«
    »Hab ich gemerkt.« Seine Kinnlade zitterte, er bekam sie nicht unter Kontrolle. »Mittendrin. Aber du hast ihnen die Meinung gesagt, was?« Sein Hals krampfte sich zusammen, er bekam keine Luft mehr. Er lachte, wollte sich entschuldigen. Aber er konnte nur noch würgen.
    Ich zog ihn auf die Füße und brachte ihn zum Gehen. Zweihundert Meter links von uns rückte ein Trupp Polizisten auf eine improvisierte Stellung von Steinewerfern vor. Ich steuerte Jonah nach rechts, im Bogen zurück zur Albion

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