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Der Klang der Zeit

Der Klang der Zeit

Titel: Der Klang der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Powers
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Gardisten in den Straßen von Los Angeles patrouillierten. Noch zwei Tage hielt sich die Rebellion.
    Auf dem langen Flug befühlte Jonah immer wieder die Wunde an seinem Arm. Er starrte auf die Sitzlehne vor sich und erschauderte. Wir waren schon über Iowa, als ich schließlich meinen Mut zusammennahm und fragte. »Als du da am Boden lagst, da hast du etwas gesagt.«
    Er wartete, dass ich weitersprach, aber ich war schon am Ende angekommen. »Du willst wissen, was ich gesungen habe?« Er sah sich um. Er beugte sich zu mir herüber und flüsterte. »Es war unvorstellbar. Ich sah die ganze Partitur vor mir. Ich blickte in die Höhe, und da war sie. Es war großartig, Joey. Unbeschreiblich. Mit nichts zu vergleichen, was ich je gehört habe.«
    Nie wieder klang seine Stimme, wie sie vor jenem Abend geklungen hatte. Ich habe die Aufnahmen zum Beweis.

SOMMER   1941   –   HERBST   1944
     
    Sie hat die Melodie schon ihr ganzes Leben lang gekannt. Aber erst seit sie diesen Mann geheiratet hat, hört Delia Daley das Lied des menschlichen Hasses aus voller Kehle. Erst seit sie ihr erstes Kind zur Welt gebracht hat. Erst da übertönt der Chor der Selbstgerechtigkeit jeden anderen Laut in ihren Ohren, verflucht ihre Familie jeden Tag neu für das kleine Verbrechen der Liebe.
    Sie hat eine unverzeihliche Dummheit begangen, und dafür muss sie bestraft werden. Aber sie wacht erschrocken mitten in der Nacht auf, fragt sich, wem sie denn so wehgetan hat, dass er solche Rache fordert? Was mag die Zukunft noch an unerbittlichen Anklägern bereithalten ? Jedes Mal, wenn sie überlegt, welche Sünden ihr denn vorzuhalten wären, kommt sie nur auf eines: Dass sie geglaubt hat, es sei wichtiger, einen Menschen zu achten, als ihn nicht zu achten. Dass sie geglaubt hat, Rasse sei nichts Unveränderliches. Dass jede Generation nur Platzhalter sei für das, was ihre Kinder erreichen können. Dass die Zeit etwas anderes aus uns macht, uns ein wenig mehr Freiheit gewährt.
    Aber sie muss feststellen, dass die Zeit nichts dergleichen tut. Die Zeit zieht gegenüber der Geschichte stets den Kürzeren. Jede Wunde, je erlitten, ist nur verschorft und schwärt unter der Oberfläche weiter. Ein kindlicher, noch nicht versklavter Teil ihres Wesens glaubte tatsächlich, an ihrer Ehe könne die Welt genesen. Und stattdessen verschlimmert sie das Verbrechen, indem sie alle ohnehin schon verletzten Parteien noch weiter vor den Kopf stößt. Sie und David sagen ja nichts weiter, als dass Familie wichtiger ist als Schuld. Und da die Schuld so stark ist, muss sie sich darüber empören und sie strafen.
    Weite Bereiche des Lebens waren ihr von jeher verschlossen. Aber selbst das, was noch übrig blieb, war mehr als sie ausfüllen konnte. Jetzt sind selbst ihre einfachsten Bedürfnisse nicht mehr zu befriedigen. Sie möchte mit ihrem Mann spazieren gehen, ohne dabei die Hausangestellte zu mimen. Sie möchte in aller Öffentlichkeit Arm in Arm mit ihm gehen. Sie möchte sich einen Film mit ihm ansehen können oder in ein Restaurant gehen, ohne dass ein Kellner sie vor die Tür setzt. Sie möchte ihr Neugeborenes auf den Arm nehmen und ein einziges Mal mit ihm einkaufen gehen, ohne dass alles im Laden erstarrt. Sie möchte nach Hause kommen, ohne dass sie über und über mit Galle besudelt ist. Zu ihren Lebzeiten wird es nicht mehr anders kommen. Aber ihre Söhne werden es noch erleben. Die Wut wallt in ihr auf, jedes Mal, wenn sie das Haus verlässt. Nur ihre Gefühle als Mutter sind groß genug, um diese Wut einzudämmen.
    Früher hielt sie Borniertheit für eine Verirrung. Jetzt wo sie ihr Leben mit dem eines Weißen teilt, erkennt sie sie als den Grundzug der ganzen Spezies. Aller Hass ist nichts weiter als Sicherung des Besitzes. Ein Tropfen genügt: So sichert man sich Reichtümer. Besitz, davon handeln neun Zehntel aller Gesetze.
    Gewiss, Neger nehmen sie auf. Ihre Familie, ihre Tante in Harlem, die Kirche, ihre Freunde vom College. Diese Heilige, Mrs. Washington, die ihnen ein Dach über dem Kopf gibt. Obwohl sich natürlich auch da keiner ganz wohl fühlt. Aber wenn das Weiße durch das bestimmt wird, was ausgeschlossen wird, dann bedeutet Schwarzsein für alle Zeiten Gemeinschaft. Ihr Junge ist nichts Besonderes. Drei Viertel ihrer Rasse haben weißes Blut. Die alten Rechte der Plantagen: Der Besitzer, der alles abstreitet, der Vater, der die Kinder verleugnet. Der einzige Unterschied in ihrem Fall ist, dass der Vater ihres Kindes bei ihr

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