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Der Klang der Zeit

Der Klang der Zeit

Titel: Der Klang der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Powers
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Gesicht, um den Schlag abzufangen. Jonah, halb erstickt, schien wie im Delirium. Er richtete sich auf und stieß instinktiv eine Art hohes H aus. Der Polizist blieb stehen. Jonahs Gesang rettete uns davor, dass wir den Schädel eingeschlagen bekamen.
    Der Polizist trat einen Schritt zurück, die Hand griff nach der Pistole. Ich fasste die Hände meines Bruders und hob sie. Verblüffter als wir selbst, fesselte der Polizist uns mit Handschellen aneinander. Er trieb uns zwei Straßen weit zu einem Polizeiwagen, stieß uns mit seinem Knüppel, um zu zeigen, dass er alles unter Kontrolle hatte, scheuchte seine Gefangenen stolz vor sich her. Jonah fand seine Stimme wieder. »Warte nur, bis deine Schwester das hört. Sie wird uns wieder ins Herz schließen. Wie es früher war.«
    Der Beamte scheuchte uns weiter. Er fragte sich immer noch, warum er uns nicht einfach zusammengeschlagen hatte. Wunderte sich, wie eine Stimme ihn hatte aufhalten können.
    Mit einem Dutzend anderer wurden wir zu einem Behelfsgefängnis in Athens gefahren. Die ständigen Einrichtungen waren längst überfüllt. Leute wurden zu Tausenden verhaftet. Jeder Schwarze in L. A. saß hinter Gittern, und trotzdem ging der Aufstand weiter. Wir verbrachten die Nacht in einer engen Zelle, mit zwanzig anderen zusammengepfercht. Jonah war begeistert. Von dem Schmerz in seinem Arm sprach er nicht mehr. Er lauschte jedem Fluch, jedem aufwieglerischen Wort, als studiere er eine Opernrolle ein.
    Die Gespräche in dieser Zelle waren eine grimmige Mischung aus Drohungen und Prophezeiungen. Die am besten reden konnten, feierten den Erfolg. »Jetzt können sie uns nicht mehr aufhalten. Und das wissen sie. Wir haben gewonnen, schon jetzt, selbst wenn sie uns allesamt einsperren und den Schlüssel fortwerfen. Mann, die mussten die Army holen. Sie mussten die Army holen, damit sie mit uns fertig werden. Jeder da draußen weiß das jetzt. Das vergisst so schnell keiner mehr.«
    Bis zum Spätnachmittag des folgenden Tages hielten sie uns fest; dann wurden wir unserem Beamten gegenübergestellt, der zugeben musste, dass wir nichts weiter getan hatten als uns in einen Hauseingang zu ducken. Und der Hälfte der Verhafteten war nichts Schlimmeres vorzuwerfen. Unsere Geschichte hielt der Überprüfung stand – die Plattenfirma, der Leihwagen, Juilliard, unser Agent, Amerikas neue Stimme –, alles außer dem Grund, weswegen wir überhaupt an den Unruheherd gekommen waren. Wir mussten Anstifter sein, Teil einer Verschwörung von gebildeten radikalen hellhäutigen Schwarzen, die zu diesem Pulverfass kamen und die Lunte anzündeten, die Bevölkerung aufwiegelten. So wie die Polizei uns behandelte, mussten wir etwas Schlimmeres als Plündern, Prügeln, Brandstiften getan haben. Wir hatten alles – Chancen, Privilegien, Vertrauen. Wir waren die Zukunft unseres Landes, und wir hatten diese Hoffnung verraten. Unser Verbrechen war, dass wir dabei sein wollten, wenn die Stadt in Flammen aufging. Die Beamten beschimpften uns, schikanierten uns, drohten uns mit einem Prozess. Aber schließlich ließen sie uns angewidert laufen.
    Die Justiz hatte keine Zeit für uns. Als der Freitagabend kam, war klar, dass der Donnerstag nur ein Vorgeschmack gewesen war. Am Freitag würde das echte Feuer lodern. Die Gewalt begann schon am frühen Morgen und baute sich unerbittlich den ganzen Tag über auf. Am Freitag tauchte Los Angeles in den Maelstrom ein.
    Wir hörten die Berichte im Radio, auf dem Weg zum Flughafen. Keine Maschine flog an diesem Abend, aus Angst, sie würde mit Flinten vom Himmel geholt. Wie erstarrt saßen wir vor den Bildschirmen, sahen den immer größeren Lichtschein der Flammen. Im Vergleich dazu war Südostasien ein Kinderspiel. Die Feuerwehr zog ihre Kräfte aus Watts ab und sammelte sie im Südosten der Stadt. Heckenschützen feuerten auf die Polizei. Die Polizei schoss auf Zivilisten. Polizisten schossen aufeinander und hängten es den Massen an. Sechshundert Gebäude brannten aus, zweihundert wurden vollständig zerstört. Dutzende von Menschen kamen um, erschossen, verbrannt, von herabstürzenden Mauern erschlagen. Die Nationalgarde marschierte in Bataillonen durch die Stadt, Schulter an Schulter, säte noch mehr Zwietracht. Jonah lauschte den Nachrichten, seine Lippen wie Blei.
    Wir verbrachten die Nacht auf dem Flughafen, schliefen noch weniger als die Nacht zuvor in der Zelle. Erst am späten Samstagabend ging wieder ein Flug nach New York, als schon dreizehntausend

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