Der Klang der Zeit
rechtfertigen muss, die sie singt.
Ihr Mann hat keine Ahnung, wovon sie spricht. Das spürt sie jetzt, den Abstand zwischen ihr und ihm. Ohne den verirrten Jungen hätte sie ihn nie geheiratet, ohne die Zukunft, in die sie beide hineingestoßen wurden durch die Worte des verlorenen Kindes an jenem Tag in Washington. Sie wusste, was es diesen Mann kosten würde, Teil ihrer Rasse zu werden, ihr Erbe mit ihr zu teilen. Sie konnte nicht hoffen, dass sie ihn vor der Rache der weißen Welt schützen konnte. Und so verblüfft es sie jede Nacht neu: Je mehr die anderen ihnen zusetzen, desto enger rücken sie zusammen.
Seine Liebe zu ihr ist so einfach, so frei von Weltanschauung und Vorurteil. Sie hat bedingungslose Liebe gekannt – die unerschütterliche Fürsorge ihrer Eltern, nur umso hartnäckiger um ihrer eigenen Herkunft willen, mutig im Angesicht des Wegs, den sie eingeschlagen hat. Bei David kann sie einfach nur sein. Ihr gefällt die Frau, die er sieht, wenn er sie ansieht – ein Bild am winterlichen Sternenhimmel, dessen Konstel-lationen er mit so untrüglicher Sicherheit entdeckt.
Sie genießt es, wie er immer wieder über sie staunen kann, seine behutsamen Erkundungen, seine dankbare Überraschung. Seine Zärtlichkeit, gereift im Weinkeller des Lebens. Die Ehrfurcht, mit der seine Finger die Rundung ihres festen Bauches nachzeichnete, als er die Frucht ihrer Vereinigung barg. Bei ihm fühlt sie sich geborgen, still, leicht wie ein Spielzeug. Wenn sie beieinander liegen, der Junge in seiner Wiege zu Füßen des Bettes, ihre Scheu voreinander vervielfacht durch diesen unverhofften Besucher, diesen vor sich hinmurmelnden Dritten, dann sind sie nichts als sie selbst. Nirgendwo anders als hier. Ihre gemeinsame Melodie ist beständige Modulation, mit der auch die entlegensten Ton-arten immer wieder beim Do anlangen.
In der harten Arbeit des täglichen Lebens hält er sich tapfer. Er ist nicht gerade häuslich, und seine Körperpflege ist noch unberechenbarer als seine unregelmäßigen Verben. Seine Art treibt sie zur Verzweiflung. Er bringt es fertig und lässt eine Schachtel Eiscreme auf der Anrichte stehen, und zwei Stunden später wundert er sich, dass sie ihm an den Schuhsohlen klebt. Aber er kann auch über sich selbst lachen. Und für einen Mann der Theorie ist er bemerkenswert geduldig. Ein Mann so gutmütig wie die Zeit lang ist.
Zum Glück ist er älter als sie und kann echte Sorgen leichter von den vielen Kleinigkeiten des Tages unterscheiden. Es ist ihre Rettung, hundertmal im Monat, dass er nur selten feste Vorstellungen davon hat, wie etwas getan werden sollte. Dass sie beide so unterschiedlich sind, macht ihm immer wieder Freude. Er übernimmt eine Redensart von ihr, den Satz, den sie ausrief, als sie ihn zum ersten Mal eine Sieben schreiben sah. Kaum eine Woche vergeht – ob sie nun Eintopf kocht, eine Rechnung bezahlt oder ein Bild aufhängt –, in der er nicht irgendwann sagen muss: »Jetzt schau sich das einer an!«
Hätten sie weniger übereinander gestaunt, sie hätten den ersten gemeinsamen Sommer gewiss nicht überstanden. Der Schmelztiegel New York heizt ihnen mächtig ein; fünf Minuten draußen auf dem Bürgersteig, und sie sind völlig ausgebrannt, nur noch wertlose Schlacke. Doch im Haus bleibt der Hochofen wirkungslos, und das Erz gehört ihnen. Sie können singen, was sie wollen, und immer wieder wird aus zwei verschiedenen Melodien eine. Sie haben die gleichen Komponisten lieben gelernt, sind auf so verschiedenen Wegen zu den gleichen Vor-lieben gelangt, dass jeder die Andersartigkeit des anderen bestätigt. Ihre Harmonien leuchten umso heller vor der Dissonanz der Welt.
Erst kurz vor der Hochzeit schliefen sie zum ersten Mal miteinander. Es kam überraschend für sie, nach all den Monaten quälender Abstinenz, nach den atemlosen, mühsam gezügelten Zärtlichkeiten. Es war seine Entscheidung – sie brauchte dafür ganz bestimmt keinen Ring. Nachdem sie sich einmal für ihn entschieden hatte, gehörte sie ihm mit Haut und Haaren. Jedes Mal, wenn sie ihn in New York besuchte und er sie am Abend zurück zu ihrer Tante schickte, ging sie weg mit dem Gedanken : Ist er wirklich so wenig von dieser Welt? Oder hält er sich nur um meinetwillen zurück?
Doch dann, in der Woche vor der Hochzeit, schickte er sie nicht mehr weg. »Nächste Woche«, flüsterte David, als seine Berührungen in bisher unerforschtes Terrain vordrangen, »nächste Woche geben wir uns das Jawort vor den Augen
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